Der Sohn der getöteten Künstlerin Angela Kurrer leidet bis heute
Eppendorf. Das dunkelrote Fahrrad wird er nie vergessen. "Meine Mutter fuhr jeden Tag damit", sagt Roman Raacke, 35, Fotograf und Halbbruder des Schauspielers Dominic Raacke. "Sommer wie Winter. Wenn hoher Schnee lag, hat sie es geschoben." Die Frau mit dem glatten, braunen Haar auf dem Sattel - das sei das Bild, das von ihr bleibe. Doch da sind noch andere Bilder: dasselbe Rad mit verbogener Lenkstange auf dem Gehweg liegend, daneben ein schwarzer Stiefel und der Schlüsselbund der Radfahrerin. Raackes Mutter Angela Kurrer, 65, ist eines der vier Todesopfer des Unfalls in Eppendorf.
Raacke hat mit zwei Dingen zu kämpfen. Zum einen mit dem Verlust des ihm am nächsten stehenden Menschen und zum anderen mit der Szenerie an der Unfallstelle. Mutter und Sohn lebten nur eine Querstraße vom Unfallort entfernt, Wohnung an Wohnung. Gegen Mittag hatten sie sich zum letzten Mal gesehen. Angela Kurrer wollte wissen, ob sie etwas vom Einkaufen mitbringen solle. Das war nicht nötig, denn Raacke ging gegen viertel vor fünf - zum Zeitpunkt des Unfalls - selbst los, um ein paar Besorgungen zu machen.
Etwa eine halbe Stunde später kam er auf die Eppendorfer Landstraße: "Ich sah dieses Meer von Feuerwehrautos, Rettungswagen und Polizeifahrzeugen und habe dann sofort instinktiv meine Mutter angerufen. Das war nicht, weil ich dachte, sie ist da verwickelt. Das war nur, weil ich gedacht habe: 'Ich muss sie jetzt mal anrufen.' Sie ging nicht ans Telefon. Und dann bin ich etwas näher zur Kreuzung gegangen. Ich habe gesehen, dass es ein Verkehrsunfall war, und dachte: Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert. Aber wo ist meine Mutter? Warum geht sie nicht ans Telefon?"
Raacke lief nach Hause und zum Lieblingsladen seiner Mutter, um sie zu suchen. Ohne Erfolg. "Ich ging dann zum zweiten Mal zum Unfallort, und da sah ich das Fahrrad. In dem Moment wusste ich, dass sie involviert ist. Ich hatte noch für einen kurzen Augenblick die Hoffnung, dass sie es da nur abgestellt hatte oder dass sie nur leicht verletzt war. Aber es hat mich sehr beunruhigt, dass ich sie nicht erreiche, und vor allem, dass sie mich nicht anruft. In dem Moment, in dem was passiert wäre und sie noch ansprechbar gewesen wäre, hätte sie mich angerufen. Ich habe mit dem Schlimmsten gerechnet und Polizisten angesprochen, die mir sagten, dass sie zu 99 Prozent tot sei. Es waren Notfall-Seelsorger da. Aber du bist in dem Moment allein, ganz allein."
Raacke rief Freunde an. Zwei kamen sofort zur Unfallstelle. "Das war natürlich gut, dass sie da waren, weil du ja in diesem Moment so tief in deinem Grundfundament erschüttert bist, dass es das Wichtigste ist, dass du nicht alleine bist", sagt der Fotograf. Sie gingen in seine Wohnung. Später kamen immer mehr Freunde hinzu. Gemeinsam kehrten sie am selben Abend zur Kreuzung zurück. Der aus Betonplatten zusammengesetzte Pflanzenkübel, die kaputte Bank und Teile des Fußwegs waren bereits mit Blumen, Bildern der Verstorbenen und Kerzen übersät. Raacke ging nach dem Unfall täglich an diesen Ort, der mit so viel Schmerz verbunden ist. Er wollte reden - mit Augenzeugen, mit Helfern und mit denen, die mit der Sache direkt nichts zu tun hatten, aber trotzdem gekommen waren, um ihr Mitgefühl kundzutun. Die Eppendorfer halten zusammen. Eine Erkenntnis, die Raacke Trost spendete: "Anteilnahme ist eine urmenschliche und sehr schöne Eigenschaft, die beiden Seiten hilft."
Die Betroffenheit sei zum Teil aus dem Gedanken "das hätte auch ich sein können" entstanden. Die Vorstellung, dass das Leben von jetzt auf gleich einfach so zu Ende sein kann und man nichts dagegen machen kann, werde den Menschen direkt vor ihrer Tür vor Augen geführt. "Ich war bis zu dem Tag auch immer einer, der gedacht hat, so was passiere nur den anderen", sagt Raacke. "Es ist aber nicht so."
Acht Monate sind seit dem Unfall vergangen. Raacke sitzt in einem Café in Eppendorf. Seine Armbanduhr hat dieselben Farben wie sein kariertes Hemd. Grün, Braun, Rot. Wenn er spricht, dann langsam und überlegt. Er will die perfekten Worte finden.
Wie es ihm heute geht? "Es schwankt zwischen Trauer und Schmerz. Manchmal hab ich auch einfach so das Gefühl, dass es gar nicht real ist. Natürlich sehe ich und fühle ich jeden Tag, dass es real ist, aber es dauert einfach lange, um das zu verstehen. Und dann ist da natürlich auch viel Erinnerung. Ich wohne ja um die Ecke, und mehr oder minder jeden Tag gehe ich über den Stein, auf dem meine Mutter gestorben ist. Hinzu kommen die Bilder, die ich gesehen habe. Das zerstörte Fahrrad, die Kanülen von den Notärzten, das Blut. Das vergisst man nicht."
Raacke arbeitet viel. Zur Ablenkung und weil das Leben nun einmal weitergehen muss. Das Interesse für Kunst, Design und Fotografie verband ihn und seine Mutter, die viel mehr eine gute Freundin für ihn war. Sie führten lange Gespräche, verstanden sich aber auch ohne Worte. "Diese Lücke lässt sich nie wieder schließen", sagt Raacke.
Im Museum für Kunst und Gewerbe läuft eine Sonderausstellung von Roman Raacke zur Entwicklung des Designs von Apple-Produkten. Ein paar Räume weiter wird ein von Angela Kurrer entworfener Stuhl ausgestellt. Es ist das erste Mal, dass beide im selben Haus ausstellen. Dort sind sie noch vereint. Demnächst will Raacke die Werke seiner Mutter fotografieren. Lange hatte sie sich das gewünscht. Manchmal bleibt nicht genug Zeit, um zu warten.
"Wenn jemand unerwartet stirbt, dann lebst du erst einmal das Leben des anderen mit", sagt Raacke. Erst viele Wochen nach dem Unfall kündigte er das Zeitungsabo seiner Mutter. Ihre Wohnung ist noch nicht neu vermietet. Es geht einfach noch nicht.