Shlomo Bistritzky ist jüdischer Gelehrter, Ratgeber, Vater von sechs Kindern. Vor acht Jahren kam er nach Hamburg, Heimat seines Urgroßvaters.
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Den Anfang machte Altbürgermeister Henning Voscherau. In der 13. Folge vor einer Woche: Künstler Till Nowak
Shlomo Bistritzky nickt nur zur Begrüßung. Seine Hand reicht er nicht. Hat der Mann etwa Berührungsängste? Aber seine Assistentin hatte kurz vor dem Treffen auf diese Situation vorbereitet, die erst einmal befremdlich, ja fast unfreundlich wirkt. Dann bietet Shlomo Bistritzky lächelnd einen Stuhl, setzt sich ebenfalls an den Tisch und löst mit einer überraschenden Erklärung das Rätsel auf: "Ich berühre keine Frau, denn sie ist vielleicht mit jemand anderem verheiratet und es verletzt ihre Ehre. Eine Frau ist etwas Besonderes, die nicht jeder anfassen darf", sagt der 34-jährige Hamburger Rabbiner.
Auf der Glasplatte des Tisches schnurrt sein iPhone. Der Vibrationsalarm ist eingeschaltet. Jemand will den Rabbi sprechen. Ihn vermutlich fragen, wo man in der Stadt koscher essen kann, wann Termine für ein Tora-Studium anstehen oder ob Kinder kostenlos in der Sonntagsschule Hebräisch lernen können. Fragen, die Ratsuchende ihm täglich stellen.
Organisieren, informieren, aufklären - das ist Teil des Alltags von Rabbiner Bistritzky. Er nimmt den Anruf nicht an, sondern schiebt sein Handy ein Stück zur Seite und konzentriert sich auf einen vor ihm liegenden Kalender. Es scheint, als sammle er sich kurz, lege sich im Kopf den Satz auf Deutsch zurecht, den er sagen möchte. Seit acht Jahren ist er in Hamburg, sein Deutsch ist flüssig, holprig nur, wenn er nach den passenden Ausdrücken sucht.
***Till Nowak: der Meister des Alltäglichen***
Bistritzky streicht sich mit einer Hand über den schwarzen Bart, der an den Seiten bereits weiße Strähnen hat. Bistritzky sieht genauso aus, wie man sich einen orthodoxen Juden vorstellt: langer, spitz zulaufender Bart, kurze Haare, dunkler Anzug. Auf dem Hinterkopf sitzt eine Kippa. Die schwarze Kopfbedeckung symbolisiere, dass es Gott "da oben" gebe, sagt der Rabbiner und deutet mit der Hand zur Zimmerdecke.
Auch wenn die Kippa das augenfälligste Zeichen der Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben ist, sträuben sich viele liberale und progressive Juden dagegen, sie zu tragen. "Jeder kann selbst entscheiden, wie er lebt. Wir mit unserer Chabad-Bewegung haben es uns allerdings zum Ziel gemacht, den Juden zu zeigen, wie sie orthodox leben können", sagt Bistritzky. Er sagt es ruhig, ohne Groll. Fast verständnisvoll. Es scheint, als schlüpfe er gerade von der Rolle des organisierenden Ansprechpartners in die des jüdischen Gelehrten. Mit seinem Zeigefinger deutet er auf den aufgeschlagenen Monat, erklärt, warum der jüdische Kalender sich nach dem Mond richtet, nicht nach der Sonne. Er spricht über den Jahresverlauf in seinem Glauben, die unterschiedlichen Feiertage, die dazugehörigen Bräuche. Jetzt, im November, ist für die Juden der Monat Cheschvan angebrochen, sie leben im Jahr 5772. Bistritzky selbst hat dieses Tagesverzeichnis für die in Hamburg lebenden Juden zusammengestellt und herausgegeben. Er will den Menschen die Möglichkeit bieten, die Festtage zu planen und im Alltag stärker ihre Religion zu leben. Damit es nicht so oberlehrerhaft wirkt, hat er kurze Texte dazugestellt, die die Bedeutung der einzelnen Buchstaben des hebräischen Alphabets und deren Schreibweise erklären.
Denn von den rund 8000 jüdischen Mitbürgen in der Stadt leben nicht viele so streng orthodox wie der Rabbiner und seine Familie. Doch er sieht sich nicht als Bekehrer. "Hier im Chabad-Zentrum sind alle willkommen, egal, wie er oder sie seinen oder ihren Glauben lebt", sagt Bistritzky. Chabad-Zentren seien mittlerweile übrigens weltweit verbreitet. Eigentlich in allen Ländern und Orten, "wo es auch Coca-Cola gibt", sagt er.
Vor acht Jahren kam der 34-Jährige mit seiner Frau Chani aus Israel und eröffnete den Hamburger Chabad-Lubawitsch-Ableger in der Rentzelstraße. Es ist ein Bildungszentrum für die jüdische Gemeinde, aber auch für Reisende und jüdische Geschäftsleute von außerhalb. Ein unauffälliger, lang gezogener Raum mit Büro, zwei weiteren Zimmern, einer tiefen Decke und offensichtlichem Renovierungsbedarf an manchen Stellen. Nach neuen, größeren Räumen sei er auf der Suche.
Hier wird gebetet, hier können die Kinder in der Sonntagsschule Hebräisch lernen, gemeinsam wird Sabbat gefeiert. Denn an jedem Sonnabend, dem Sabbat, lässt der gläubige Jude die Arbeit ruhen. Er darf nicht arbeiten, weil Gott in sechs Tagen die Welt erschaffen und am siebten Tag geruht hat. Auch elektronische Geräte zu betätigen ist nicht gestattet, weshalb beispielsweise das Essen teilweise in der Woche vorbereitet wird. Für Shlomo Bistritzky sind alle diese Riten und Gebräuche selbstverständlich, sie sind sein Leben.
Er ist es schlicht nicht anders gewohnt. Von Kind auf lernte er, nach den Regeln des Judentums zu leben. "Mein Vater Levi war Oberrabbiner von Safed, einer Stadt im Norden Israels", erzählt der Rabbiner, "da habe ich alles über unseren Glauben gelernt, und natürlich haben wir danach gelebt."
Ihn führten schlussendlich seine familiären Wurzeln von Israel zurück nach Hamburg. Ein Zufall? "Nein", sagt er, strahlt und ist plötzlich nicht mehr nur der Gelehrte. Vielmehr zeigt sich ein begeisterter junger Mann von 34 Jahren, der von seiner Familiengeschichte erzählt.
Hamburg bedeutet für ihn heimzukommen. Am richtigen Ort in der Welt den Glauben zu vermitteln. Sein Urgroßvater Markus Bistritzky war 1920 aus Königsberg nach Hamburg gekommen und führte damals ein gut gehendes Geschäft im Levantehaus in der Innenstadt. Hier wurde 1926 auch Loeb Bistritzky geboren, Shlomos Großvater. Der heute über 80-Jährige lebte mit seinen Eltern in der Innocentiastraße und besuchte von 1932 an die Talmud-Tora-Schule. Bis Nationalsozialismus und Krieg die Familie aus ihrer deutschen Heimat trieben. ",Wenn du an dem Ort, von dem ich fliehen musste, dazu beiträgst, dass jüdisches Leben dort wieder heimisch wird, dann ist das die beste Antwort auf den Holocaust', hat mein Großvater zu mir gesagt, als ich ihm mitteilte, dass ich den jüdischen Glauben in die Welt hinaustragen will", erzählt Shlomo Bistritzky.
Da war er Mitte 20. Hinter ihm lag bereits ein Teil eines Lebensweges, der von Anfang an vorgezeichnet war. Zwar ohne Zwang, aber mit einer Selbstverständlichkeit, die die meisten Jugendlichen des 21. Jahrhunderts wohl infrage stellen würden. "Es ist so gewollt gewesen", sagt er schlicht. Wie seine sieben Geschwister besuchte auch er als Kind und Jugendlicher die Jeschiwa, die religiöse Hochschule zum Tora-Studium, in Safed und Ksar Chabad. Später studierte er in New York und Manchester jüdisches Gesetz, bekam in Berlin schließlich seine Ordination als Rabbiner. Vom Oberrabbiner des Staates Israel, Bakshi Doron, erhielt er 2003 zusätzlich die Smicha, die ihn legitimiert, als Rabbiner in der Diaspora tätig zu sein. Damit bekam Bistritzky die Berechtigung zugesprochen, gültige Entscheidungen in Fragen des Religionsgesetzes zu fällen.
Im selben Jahr zog er mit seiner Frau nach Hamburg, um hier als Schliach, als Gesandter des Lubawitscher Rebben, eines Mitglieds der Chabbad-Dynastie, die jüdische Gemeinde zu unterstützen. Bistritzky führt seinen Fulltimejob besonnen aus. Voller Hochachtung vor den Leistungen früherer Rabbiner, aber mit Energie. "Mein Handy ist 24 Stunden lang an", sagt er. Wenn jemand sein Hilfe brauche, dann versuche er zu kommen. "Manchmal zählt jede Minute. Wenn zum Beispiel ein Jude im Krankenhaus liegt und nur noch wenig Lebenszeit hat", sagt der Rabbiner. Er besucht jüdische Häftlinge im Gefängnis, betet mit den Gläubigen, gibt aber auch Computerkurse für die Älteren und pflegt den Kontakt zu Hamburgern anderer Glaubensrichtungen. "Jeder Jude soll in Hamburg jüdisch leben können. Ich zeige ihnen, wie das geht." In den acht Jahren seiner Amtszeit konnte Bistritzky einiges bewegen. Auch wenn es manchmal zu Konflikten mit und innerhalb der jüdischen Gemeinde und deren Vorständen kam. "Ja, ich denke, wir können beides sein, Konkurrenten oder Menschen, die zusammenarbeiten."
Zuletzt jedenfalls gab es gute Fortschritte. Mittlerweile ist die Joseph-Carlebach-Schule wiedereröffnet. Sie ist die Schule der jüdischen Gemeinde Hamburgs und liegt in unmittelbarer Nähe der Bornplatzsynagoge im Grindelviertel, wo heute wie früher der Mittelpunkt des jüdischen Lebens in der Stadt ist und war. "Es gibt einen jüdischen Kindergarten und die Krippe. Bei Edeka und beim Bäcker kann man koschere Produkte kaufen. Dazu bekommen wir wohl die Genehmigung für eine weiterführende Schule bis zum Abitur", sagt Bistritzky. Und ist stolz darauf. Auch seine eigenen Kinder besuchen schon die Schule, in der auch ihr Großvater das ABC lernte. Noch nicht alle. Die Bistritzkys haben sechs Kinder. Die älteste Tochter Mussi ist zehn Jahre alt, dann folgen Elki, Riki, Sohn Levi und Devora-Lea. Das jüngste Mädchen ist am vergangenen Montag geboren. Alles Wunschkinder von ihm und seiner Frau. Sie sei diejenige, die entscheide, ob sie Kraft für mehr Nachwuchs habe. "Sie will zehn Kinder", sagt der Rabbiner und richtet sich im Stuhl auf.
Seine Frau Chani ist Mathelehrerin, leitet die Sonntagsschule und kümmert sich um den Haushalt. "Ich weiß gar nicht, wie sie das alles leistet", sagt er. Und: "Allein hätte ich das hier nie geschafft. Wir sind ein Team."
Bistritzky lächelt und blickt beinahe verschämt auf die Tischplatte, so, als wollte er für einen Moment sein Gesicht verbergen. Waren das eben Gefühlsregungen, die er in der Rolle eines Geistlichen für unpassend hält? Doch macht ihn gerade dies sympathisch: nicht zu verhehlen, dass auch er nur ein Mensch ist. Mit allen dazugehörigen Gefühlen. Shlomo Bistritzky ist ein liebender Familienvater, der Verantwortung für Ehefrau und Kinder hat, der sein Leben aber aufteilt. Weil er auch Verantwortung für die Hamburger Juden übernehmen will. Und muss. Und kann. Und deshalb immer erreichbar ist. Nur nicht am Sabbat. Dann bleibt auch sein Handy aus.
Shlomo Bistritzky gibt den roten Faden an den Produktdesigner Peter Schmidt weiter. "Er hat ein großes Talent und will auch immer verstehen. Wir hatten sehr gute Gespräche über den Glauben und das Leben, dabei habe ich ihn als offenen und freundlichen Menschen kennengelernt."