Wohlüberlegt, das mag ganz schön sein, aber auch ganz schön langweilig, denkt sich Tina Heine. Doch es gibt Konstanten: den Jazz.
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die etwas Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Den Anfang machte Altbürgermeister Henning Voscherau. In der elften Folge vor einer Woche: der Psychotherapeut Andreas Krüger ("Seelendoktor mit Puppentherapie"). Heute: Tina Heine.
Wie stellt man ein Jazz-Festival auf die Beine? Kein kleines, sondern eines mit 50 Konzerten auf zehn Bühnen, in einer Stadt, die an Festivals nicht gerade arm ist? Und ausgerechnet ein Jazz-Festival, wo doch jeder weiß, dass in diesem weiten Feld der Musik drei Jazzer vier Richtungen und fünf Meinungen haben?
Bei Tina Heine, die mit ihrer Geschäftspartnerin Nina Sauer das Elbjazz-Festival ins Leben rief, das im kommenden Mai zum dritten Mal den Hafen zum Klingen bringt, kam diese Idee irgendwann zu ihr geflogen, so wie manch anderes zuvor. Fest steht nur: Zufall war es ganz bestimmt nicht.
"Jazz war in meinem Leben bisher nie die Hauptsache, eher die ständige Begleitmusik", sagt die 38 Jahre junge Frau, die mit Begeisterung, Offenheit und sprudelnder Lebensfreude Gesprächspartner schnell für sich einnehmen kann. Jazz kam durch den Vater in ihr Leben, das in einem Dorf bei Celle begann. "Der hörte zu Hause Jazz von morgens bis abends. Und da diese Leidenschaft niemand mit ihm teilte, weder meine Mutter noch meine beiden jüngeren Schwestern, nahm er regelmäßig mich mit, wenn es in Celle einen Jazz-Frühschoppen gab oder die Konzerte der Jazz-Initiative."
Irgendwann arbeitete sie da mit, "wir holten Dizzy Gillespie, Barbara Dennerlein und alle möglichen anderen". Bis in Tina Heines Schulzeit reichen deshalb die Wurzeln der Bekanntschaft mit einigen Musikern, die später auch bei Elbjazz aufgetreten sind.
Vom Vater hat sie einiges gelernt. Zum Beispiel, dass Lebenswege nicht immer penibel geplant werden müssen. "Er war ein Kriegskind und hat einfach alles gemacht: Uhrmacher, Lkw-Fahrer, Heiratsvermittler, Refa-Techniker, Versicherungsmakler, Handwerker." Das war finanziell häufig prekär. Als Erkenntnis aber blieb hängen: Man kann häufiger auf die Nase fallen und immer wieder aufstehen - Scheitern wurde als Bestandteil des Lebens akzeptiert, der keine Angst machen muss.
Irgendwann beginnt Tina, die bis dahin in der Kirche Orgel spielte, Saxofon zu lernen, probiert auch Posaune aus, nimmt Unterricht. Sie spielt bis in die Zeit nach dem Abitur 1992, als sie in Boston als Au-pair-Mädchen arbeitet. Da gab es das Berkelee College of Music und ganz viel Jazz in den Klubs drum herum. Mit dem Saxofon hört sie bald auf - "ich bin zu ungeduldig. Entweder, ich kann etwas schnell und sehr gut, oder es ist nichts für mich." Stattdessen kommen viele Freundschaften mit Musikern - "ein großartiger Saxofonist, Rudresh Mahanthappa, damals noch Student, war Saxofonlehrer meiner Au-pair-Kinder. Auch er war inzwischen bei Elbjazz zu Gast. Is doch irre, oder?"
Musikalische Freundschaften halten eben lange. 1994 kommt sie zurück, beginnt in Hamburg ein Studium: Mathematik und Germanistik fürs Lehramt. Die Schüler mag sie, den Job auch - aber die Stimmung in den Lehrerzimmern findet sie deprimierend. Was tun? Just in diesem Moment kommt über eine alte Celler Bekanntschaft das Angebot eines Immobilienentwicklers, in einem alten Gebäude am Schlump ein Café einzurichten und zu betreiben.
Tina Heine und der Betreiber der Bar in Celle, bei dem sie als Schülerin arbeitete, schlagen zu. Im zarten Alter von 22 Jahren nimmt sie ein großes Darlehen auf, man richtet das Café ein. Sie nennen es Hadley's, so wie den Vorgänger in Celle. Hadley's nach Hadley Richardson, der ersten Frau von Ernest Hemingway in dessen frühen Pariser Tagen.
Die Eltern müssen geschluckt haben, als die Tochter das Studium hinwarf und ein erhebliches finanzielles Risiko eingeht. "Aber sie haben es mich nicht merken lassen, sie haben ihre Bedenken und inneren Kämpfe für sich behalten und mir keine Angst gemacht", sagt sie heute dankbar. Ihre Mutter ist immer noch ihre beste Freundin. "Was man halten will, muss man eben loslassen."
Irgendwie rutscht sie immer wieder in Dinge hinein, die dann Teil ihres Lebens werden. Mit einer alten Canon, die sie im Keller ihrer Au-pair-Eltern entdeckt und benutzen darf, beginnt eine große Leidenschaft fürs Fotografieren, sie probiert aus, macht Porträts, "weil man da so gut mit den Menschen sprechen kann", bekommt erste Aufträge und schreibt selbstbewusst auf Visitenkarte und Website "Fotografin".
Irgendwie passt das alles zusammen, das Café, die Fotos, und auch die Familie. Sie heiratet mit 22, spontan und impulsiv. "Andere sagten: Ihr kennt euch doch erst ein halbes Jahr. Aber ich dachte: Der Wind steht in den Segeln, also los! Andere haben es auch nicht besser hingekriegt." Und plötzlich ist die erste Tochter da. Sie bekommt den Namen "Hadley". Tina Heine hängt an dem Namen, der für eine wilde, verrückte, neugierige künstlerische Aufbruchsepoche im Paris der 20er- und 30er-Jahre steht.
Man hätte das alles sicher auch überlegter machen können, aber das wäre wohl nicht sie. "Und im Nachhinein betrachtet hatten Hadley und Hannah eine ziemlich bunte Kindheit mit vielen Bezugspersonen. Das war nicht immer einfach, aber am Ende eine Bereicherung." Wenn es ein Konzept gibt, das Leben im Griff zu haben, dann heißt es bei Tina Heine: erst mal machen. Interpretieren kann man's später noch.
Im Hadley's kommt auch der Jazz zurück: Einzelne vorsichtige Konzerte am gästearmen Montag ("da vergrault man nicht gleich so viele, wenn das jemand nicht mag"). Bis ein Nachbar sein Ruhebedürfnis in ein Verbot umsetzt.
Aber da ist Tina Heine längst weiter: Bei ihren Montagskonzerten redet sie mit Musikern auch über deren Auftrittssituation in Hamburg. Und 2008 denkt sie sich: Dagegen hilft nur ein Jazz-Festival. Und zwar ein großes. Auf einer Party spricht sie mit der Eventmanagerin Nina Sauer darüber.
Viele Leute reden auf Partys über Ideen, und dabei bleibt es dann. Die beiden Frauen spinnen den Gedanken weiter, reden mit möglichen Sponsoren und Profis, "irgendwann hatten wir zwei Mädels zwei alte Hasen im Boot, den Konzertveranstalter und Jazz-Kenner Karsten Jahnke und den Festival-Profi Folkert Koopmanns von FKP Scorpio." Zwei Konzerte überbrücken 2009 die Anlaufphase. Und am 28. Mai 2010 heißt es: Bühnen frei. 10 000 Hamburger Jazz-Fans strömen zu den Spielorten am Hafen, Jazz gibt es auf der Werft Blohm + Voss, im Bauch des Stückgutfrachters MS "Bleichen", in den Deichtorhallen, im Golden Pudel Club u. a. Das Programm kann glänzen mit Till Brönner, Bugge Wesseltoft, Nils Wülker, Bobo Stenson, Manu Katché und vielen spannenden unbekannteren Künstlern.
"Bevor es losging, fühlte ich mich manchmal wie ein Jongleur mit 15 Bällen, die er gleichzeitig in der Luft halten soll. Kneipe, Kinder, Festival. Das ging schon an die Grenzen - und dann allen ständig das Gefühl zu geben, das Festival steht schon. Meine Töchter, heute bald 14 und zehn, wollten damals das Wort Jazz nicht mehr hören, und die Musik dazu überhaupt nicht mehr."
Aus der Idee, aus der Begleitmusik in Tina Heines Leben, ist inzwischen längst der Grundton geworden. Das Leben sortiert sich wieder einmal neu, sie wohnt nicht mehr über ihrem "Baby", womit sie das Hadley's meint. "Man muss loslassen, damit man den Freiraum für Neues gewinnt." Sie hat aufgeräumt, wobei ihr neuer Lebenspartner Claus Friede die organisierten Strukturen ins kreative Chaos bringt. Mit ihm teilt sie ihre Leidenschaft für Kultur, auch über die Musik hinaus.
Für das dritte Elbjazz-Festival 2012 läuft die Arbeit längst auf Hochtouren, wieder zwei Tage, zehn Bühnen und 50 Konzerte. Im Gespräch sind Künstler wie Nils Petter Molvaer, Roy Haynes, Helge Schneider, Ben lOncle Soul und so viele mehr.
Noch Wünsche offen? "Ein Traum wäre, na ja - ne schöne Stimme. Wenn ich singen könnte, da vorne stehen und einfach lossingen." Sie kann es nicht, "aber deswegen bin ich nicht kleiner, sondern eben anders". Bei Elbjazz, sagt die Macherin, "kann ich in Potenz das ausleben, was im Hadley's einen begrenzten Rahmen hatte: Programm machen, inhaltlich gestalten. Mit Menschen an einem Herzensthema im Team arbeiten." Vom Au-pair-Mädchen zur Festival-Chefin - Lebenswege kommen manchmal ohne feste Planung aus. Aber nur Zufall, das war es ganz sicher auch nicht.
Tina Heine reicht den roten Faden weiter an den Medienkünstler Till Nowak. Künstler mit ihren anderen Denkstrukturen und Motivationen faszinieren sie, und Till Nowak sei "ein kreativer Kindskopf und Daniel Düsentrieb auf den ersten Blick, aber er ist vor allem ein genialer und rastloser Denker".