Volker Sarbach rückte 1977 als Wehrdienstleistender in die Lettow Vorbeck Kaserne ein. 34 Jahre später kehrt er zurück an den Ort der Ausbildung.
Jenfeld. Der behörden-grüne Briefumschlag, der Ende Mai im Briefkasten lag, versprach nichts Gutes. "Einberufungsbescheid zum 15-monatigen Grundwehrdienst." Ich überflog das Formblatt, um in der nächsten Zeilen vom Kreiswehrersatzamt zu erfahren, wohin die Reise gehen soll: "... finden Sie sich am 1. Juli 1977 bis 18 Uhr in der Inst.Ausb.K. 19/1 in 2 HH 70, Jenfelder Allee 72, ein." Die letzten Klausuren für das Fachabitur waren gerade geschrieben. Meine Lebensplanung sah eigentlich erst einmal Urlaub und dann den Beginn eines Studiums vor. Bundeswehr kam da irgendwie nicht vor.
Zumindest gereist bin ich dann doch: Mit einer Reisetasche, die das Nötigste enthielt, und einem "Ohren-frei-Haarschnitt" ging es an besagtem 1. Juli 1977, einem Freitagmorgen - unter anderen Umständen hätte man von einen schönen Sommertag sprechen können - mit einem Sammelzug aus dem östlichen Ruhrgebiet in Richtung Norddeutschland.
Als Zugbegleiter hatte die Bundeswehr gleich einen ganzen Tross grimmig dreinschauender Feldjäger eingesetzt, die die geschätzten 600 Rekruten auf der im Rheinland beginnenden Fahrt in den Norden im Zaum halten sollten. Gleich beim Einsteigen wurden wir nach den Bestimmungskasernen geordnet und entsprechend auf die Waggons verteilt. Endstation für etwa 100 Leidensgenossen und mich war der Bahnhof Wandsbek-Ost.
"Der nächste Halt ist Hamburg-Tonndorf", klingt es aus dem Lautsprecher der Regionalbahn, als ich jetzt - 34 Jahre später - noch einmal nach Jenfeld fahre, um mir die Kaserne anzuschauen, in der ich "gedient" habe. Aus der damaligen Station Wandsbek-Ost ist mittlerweile Hamburg-Tonndorf geworden, und auch sonst ist schon auf den ersten Blick nichts mehr so, wie es war. Damals, als ich das letzte Mal nach einem Wochenendurlaub schlaftrunken an einem Montagmorgen - rechtzeitig zum Appell - aus dem Zug gestiegen war, um in Richtung Wilsonstraße zu hasten. Wo einst links und rechts Bahnsteige lagen, ist heute ein moderner Mittelbahnsteig, die ewig geschlossene Schranke am Sonnenweg ist schon vor Jahren einem Tunnel gewichen. An der Kreuzung Tonndorfer Hauptstraße/Jenfelder Allee steht die Bebauung dicht an dicht. Wiedererkennungswert gleich null.
Erst an der Kühnstraße wird es mit den Einfamilienhäusern links und rechts wieder vertrauter. Gleich muss links die Einmündung Wilsonstraße kommen! Während ich noch darüber sinniere, wie schnell ich den Weg damals mit meiner prall gefüllten Reisetasche (Unterwäsche, Jeans, zweimal Grünzeug, Blaumann, alles von Muttern am Wochenende im Eiltempo gewaschen und gebügelt) regelmäßig montags vom Zug bis zum Kompaniegebäude zurückgelegt habe, stehe ich vor dem Tor. "Lettow-Vorbeck-Kaserne" prangt in Bronzelettern an der Ziegelmauer. Obwohl die Rolle des Namengebers, Kommandeur der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika (dem heutigen Tansania) im ersten Weltkrieg und sein Verhältnis später zu den Nationalsozialisten bis heute umstritten ist, hatte die Bundeswehr kein Problem damit, der 1934 bis 1938 für Hitlers Armee gebauten Kaserne bei der Übernahme 1958 ihren alten Namen wiederzugeben. Die Hakenkreuze über den Eingängen der Kasernenblocks waren wenigstens zuvor von den Briten, die kurzzeitig den Komplex als "St. Patrick und St. Andrew Barracks" nach Kriegsende nutzten, entfernt worden.
Ein aus der Nazi-Zeit stammender steinerner Reichsadler mit weit ausgebreiteten Schwingen hat jedoch überlebt. Auch nach 85 Jahren noch nicht flügellahm, ziert er im Eingangsbereich die Fassade eines Blocks, in dem heute Studenten der benachbarten Bundeswehr-Universität wohnen.
Keine Schranke, kein Eisentor, kein Wachhäuschen versperrt wie einst den Zugang zum Kasernengelände. Und noch etwas ist anders, wie mir erst auf den zweiten Blick auffällt: Die sogenannten Askari-Reliefs, die einen weißen Schutztruppen-Offizier mit schwarzen Soldaten (Askari) und Trägern zeigen und von den Nationalsozialisten an der Kasernenzufahrt aufgestellt wurden, sind 1999 mit der Aufgabe des Bundeswehrstandorts dort verschwunden. Heute stehen sie wenige Meter weiter rechts, von Sträuchern und Bäumen zugewachsen, im Schatten des Kriegerdenkmals, das ebenfalls von einem Reichsadler gekrönt wird. Der Kulturverein Jenfeld wollte, dass dieses Areal den Namen "Tansania-Park" trägt. Nach heftigen Diskussionen, die 2003 entbrannten, kam es jedoch nie dazu.
Wenige Schritte weiter endet mein Weg an einer Schranke und Warnschildern: Dahinter nutzt die Bundespolizei mehrere Blocks, in denen einst Stabs- und Sanitätsbereich untergebracht waren. Dort, wo mal die Kantine und Küche waren, klafft jetzt hinter einem Bauzaun eine tiefe Grube, die noch vom Abriss zeugt. Eine riesige Brachfläche dehnt sich dahinter aus: Der frühere Exerzierplatz wild überwuchert, die ringsherum aufgestellten Munitionsschränke längst verschwunden - ebenso wie "meine" Kompaniegebäude. Nach der dreimonatigen Grundausbildung war ich mit Sack und Pack über den Exerzierplatz gezogen, um als Instandsetzungssoldat meinen Dienst abzuleisten. Auch die Fahrzeughallen des Technischen Bereichs sind dem Erdboden gleich gemacht. 770 Wohnungen sollen gemäß des Bebauungsplan-Entwurfs "Jenfeld 23" auf dem 290 000 Quadratmeter messenden Areal entstehen, Menschen ein neues Zuhause in einem grünen Umfeld bieten und so auch zur Imageverbesserung Jenfelds beitragen.
Auf dem Rückweg zur Bahn kehre ich in der Wilsonstraße in die Holsten-Stube ein. Wenigstens etwas hat Bestand: Das Frischgezapfte schmeckt noch genauso wie vor 34 Jahren, als wir mit Dienstschluss nicht schnell genug aus dem Grünzeug herauskamen, um als "zivilisierter" Mensch ein Feierabendbier zu zischen, um Bundeswehr Bundeswehr sein zu lassen. Wenigstens bis zum Zapfenstreich ...