Europa muss sich auf eigene Stärken besinnen, Speicherkapazitäten anlegen, Versorgungsnetze ausbauen und einheitliche Reaktionsmechanismen für Krisen schaffen
Debatten über die Gasversorgungssicherheit entzünden sich stets an der Rolle Russlands und dem Agieren des halbstaatlichen Gazprom-Konzerns. Wann immer die russische Seite neue Vorhaben auch nur ankündigt, zuckt die deutsche Öffentlichkeit erschrocken zusammen. Im Zuge der Energiewende, die dem Erdgas den Status einer fossilen Brückentechnologie zuschreibt, sind die Empfindlichkeiten nicht geringer geworden. Nach Bekanntwerden einer Kooperation von RWE und Gazprom wurden sofort Warnungen vor einer größer werdenden Abhängigkeit von Russland laut.
Es ist deshalb an der Zeit, einige populäre Gewissheiten zu hinterfragen. So ist es unwahrscheinlich, dass der Gasverbrauch in Deutschland tatsächlich noch steigen wird. Zudem ist es in einem vernetzten europäischen Gasmarkt weitgehend irrelevant, wie hoch der Anteil von russischem Gas in Deutschland ausfällt. Auch die Bedeutung neuer Importpipelines wird überschätzt.
Im Rahmen der Energiewende muss der Ausfall des Atomstroms zunächst durch fossile Kraftwerke kompensiert werden. Die Politik favorisiert dabei Erdgas. Zum einen, weil es geringere Kohlendioxid-Emissionen als Kohle verursacht. Zum anderen, weil sich Gaskraftwerke schneller bauen und flexibler als Kohlekraftwerke betreiben lassen. Damit wären sie die optimale Ergänzung zur schwankenden Einspeisung von Wind- und Sonnenstrom. Nur leider rechnet sich der Bau von Gaskraftwerken kaum, wegen des Preisunterschieds zur billigeren Kohle, aber auch wegen der geringen Auslastung. Wenn ein Kraftwerk nur einspringen soll, wenn der Wind gerade nicht weht, kommt es pro Jahr auf sehr wenige Betriebsstunden.
Gaskraftwerke werden wohl nur dann in größerer Zahl neu errichtet, wenn dies mit Subventionen gefördert würde. Doch selbst dann würde der Gasverbrauch in Deutschland kaum ansteigen. Denn der weitaus größte Teil des Bedarfs geht nicht auf das Konto der Stromerzeugung, Erdgas wird vor allem zum Heizen verwendet. Da es erklärtes Ziel der europäischen Klimapolitik ist, den Treibhausgasausstoß bis 2050 um 80 bis 95 Prozent zu verringern, wird in den kommenden Jahrzehnten auch massiv in die Wärmedämmung des Gebäudebestands investiert. Zudem wird der Anteil von regenerativem Biogas stetig steigen. Wir werden deshalb in Zukunft nicht mehr, sondern deutlich weniger fossiles Erdgas benötigen.
Ganz gleich, wie viel Erdgas wir verbrauchen werden, es wird überwiegend aus dem Ausland kommen. Der russische Anteil liegt bei 35 bis 40 Prozent, was manchem Beobachter Anlass zur Sorge gibt. Doch in einem vernetzten europäischen Gasmarkt ist es für die Versorgungssicherheit Deutschlands nicht so sehr relevant, wie der Anteil einzelner Lieferländer ausfällt. Viel wichtiger ist, ob wir in der Lage wären, in Krisenfällen kurzfristig Ersatzlieferungen zu organisieren.
Benötigt werden dazu vor allem Verbindungen in unsere Nachbarstaaten, Gasspeicher, europaweit einheitliche Krisenreaktionsmechanismen sowie ein Abbau der letzten noch verbliebenen Handelsbarrieren zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Seit der letzten russisch-ukrainischen Gaskrise im Januar 2009 hat es in diesen Bereichen einige Fortschritte gegeben, vieles aber bleibt noch zu tun.
Der mittelfristig abnehmende Gasbedarf und das Entstehen eines funktionierenden EU-Gasbinnenmarkts verringert nicht zuletzt auch die Relevanz zusätzlicher Gasimportpipelines. Zwar könnte ein symbolisch stark aufgeladenes Großprojekt wie "Nabucco", mit dem kaspisches Gas unter Umgehung Russlands direkt in die EU geliefert würde, die Sicherheit der europäischen Gasversorgung durchaus erhöhen. Aber im Rahmen eines pragmatischen Risikomanagements ist "Nabucco" nur eine Option unter vielen.
Das drohende Scheitern der Pipeline, an der auch RWE beteiligt ist, wird von vielen Kommentatoren schon jetzt als Niederlage gegen russisches Dominanzstreben interpretiert. Sollte "Nabucco" tatsächlich nicht gebaut werden, eröffnet dies Europa aber auch die Chance, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen.
Versorgungssicherheit erreicht die EU nicht primär mit Energieaußenpolitik, sondern indem sie ihre Hausaufgaben erledigt. Wenn die Europäer eine ambitionierte Klimapolitik betreiben und ihren Gasmarkt intelligent regulieren, dann wird ihnen ein Lieferant wie Russland, der lediglich 25 Prozent des gesamteuropäischen Gasbedarfs bereitstellt, kaum Probleme bereiten können.