Prof. Dr. Jörg B. Quenzer, 49, ist Japanologe an der Universität Hamburg

Hamburger Abendblatt:

1. Der Kraftwerksbetreiber Tepco erklärt, zwei der sechs Fukushima-Reaktoren seien noch operationsfähig. In Deutschland sind die ersten Atommeiler bereits vom Netz. Hier demonstrieren Zehntausende, in Japan nur einige Hundert Anti-Atomkraft-Anhänger. Machen sich in Japan weniger Menschen Sorgen?

Prof. Dr. Jörg B. Quenzer:

Nein. Aber die Frage, wie man mit solchen Problemen umgeht, wird in Japan anders beantwortet. Die bei uns eher auf Konfrontation ausgerichtete Demonstrationskultur gibt es in Japan zwar auch, sie ist aber nicht so stark verbreitet und vor allem nicht überregional ausgerichtet.

2. Ist diese andere Einstellung der Japaner kulturell und historisch erklärbar?

Quenzer:

Kultur ist immer historisch, insofern ist es auch historisch erklärbar. Es sind die Menschen, die diese Kultur gestalten. Dabei geht es um die Frage, wie man sozial miteinander umgeht. In der Kulturgeschichte Japans lässt sich immer wieder dieses Element beobachten, dass man Konflikte nicht konfrontativ austrägt.

3. Über die Ereignisse in Fukushima gibt es nur widersprüchliche und unvollständige Informationen. Wer sind die Hauptverantwortlichen für das Informations-Desaster?

Quenzer:

Wenn wir diese Frage eindeutig beantworten könnten, wären wir weiter in unserer Erkenntnis. Ich habe den Eindruck, dass auch die Beteiligten selbst, also die politischen Akteure und die Betreiberfirma, nicht so genau Bescheid wissen, was im Einzelnen passiert und passiert ist. Die Presse in Japan hat lange Zeit zurückhaltend berichtet und nicht gleich jede Veränderung dramatisch präsentiert. Das war wohl pragmatisch, um die Menschen vor Ort nicht allzu sehr zu beunruhigen. Es gab nach meinem Eindruck aber keine Zensur.

4. Was unterscheidet die Japaner von den Europäern in ihren Ansprüchen und Erwartungen an die Politik?

Quenzer:

Die Japaner erwarten weniger stark als die Deutschen eine visionäre Politik. In Deutschland besteht der Anspruch, dass Politiker mit einem Plan und Grundsatzentscheidungen kommen. In Japan sind die Erwartungen pragmatischer und konkreter und intensiver auf lokale Bedürfnisse und Interessen ausgerichtet.

5. Bisher war die Kernkraft in Japan weitgehend akzeptiert. Wird Fukushima daran Grundlegendes ändern?

Quenzer:

Es ist noch zu früh, darauf eine eindeutige Antwort zu geben. Schnelle Veränderungen im politischen Bewusstsein und in der Politik wie bei uns scheinen mir aber nicht so einfach, weil das Instrumentarium darauf nicht ausgerichtet ist. Ich würde Japan eine Veränderung wünschen, denn die Gefährdungen bleiben aufgrund der geografischen Lage ja bestehen.