Historisch niedrige Wahlbeteiligung schürt die Debatte ums Wahlrecht. Zu Recht?
Hamburg. Nicht nur der große Wahlsieg der SPD und die erdrutschartigen Verluste der CDU sorgten bei dieser Hamburg-Wahl für Aufregung. Wähler-Kommentare wie "hochgradig unverständlich" oder "Zumutung" verschärfen auch die Kritik am neuen Wahlrecht. Nicht wenige machen deshalb die extrem niedrige Wahlbeteiligung - mit 57 Prozent wurde sogar der Tiefstwert aus dem Jahr 2008 (63,5 Prozent) unterboten - am neuen Wahlsystem fest. Ebenso werfen die derzeit 23 759 ungültigen Stimmen die Frage auf: Hat das neue Wahlrecht abgeschreckt?
"Davon würde ich ausgehen", sagt Thomas Kliche, Politikpsychologe an der Universität Hamburg. Mindestens eine Ursache für die geringe Wahlbeteiligung sieht der Experte im neuen Wahlrecht. "Zumindest spiegelt sich in der Wahlbeteiligung, dass der Ruf nach direkter Demokratie nicht aus allen Gesellschaftsschichten zu kommen scheint." Bisher sei der Wähler gewohnt gewesen, für ein komplexes Thema wie Politik ein kompaktes, einfaches "Konsumpaket" geschnürt zu bekommen - Olaf Scholz etwa habe dieses Verlangen mit seiner "nahezu entpolitisierten" Kampagne exzellent aufgegriffen. Im Gegenzug habe der neue Hamburger Wahlmodus mit der Fülle an Ankreuzmöglichkeiten exakt diese "Bedürfnisse verfehlt".
Wenn man dann noch einen Anteil von 20 bis 30 Prozent "bildungsferner Menschen" zugrunde lege, die sich ohnehin von Politik und Wahlen abgewandt hätten, liege der Verdacht nahe, das neue Wahlrecht entfremde einen weiteren Teil der Bevölkerung von Politik. Obwohl das Gegenteil bezweckt werden sollte, spricht Kliche von einer "Akademikerdemokratie", der einige Bürger wohl nicht folgen wollten oder könnten. Ungültige Stimmen seien die logische Folge dieses Systems. "Im Grunde ist es wie bei einem zu komplexen Vertrag. Die Wähler fürchten das Kleingedruckte."
Laut Kliche könnte es bei dieser Wahl zudem einen "Apathisierungseffekt" gegeben haben. Dadurch, dass das Ergebnis vermeintlich schon vorher feststand, hätten sich viele den Wahlgang erspart. "Strategie oder Lethargie - es könnten unterschiedliche Motive gewesen sein", sagt der Wissenschaftler zur niedrigen Wahlbeteiligung.
Infrage gestellt wird das neue Wahlmodell jedoch noch nicht. "Die Zahl der ungültigen Stimmen ist höher, als man es von Landtagswahlen gewohnt ist", sagt zwar auch Hans-Jürgen Hoffmann, Geschäftsführer des Hamburger Meinungsforschungsinstituts Psephos. "Dramatisch ist das nicht, aber unnötig." Nach ersten Analysen hätten 90 Prozent der Wähler offenbar ihre Stimmen einer Partei gegeben. Das spreche für eine recht anständige Orientierung, weshalb der Demoskop nichts davon hält, das Wahlrecht vorschnell wieder zu verändern. "Das würde die Wähler verwirren."
Allerdings sieht Hoffmann in dem neuen Wahlrecht auch einen Grund für die gesunkene Wahlbeteilung. "Vielen Bürgern war das Wählen offenbar zu aufwendig." Dazu kommt: Es gibt ohnehin einen rückläufigen Trend bei der Wahlbeteiligung, wobei bei der Hamburg-Wahl nach den Umfragen bei vielen Wählern zudem das Gefühl entstanden sei, die Wahl sei schon gelaufen. "Besonders die CDU konnte ihre Stammwählerschaft nicht mobilisieren. Das ist der SPD dagegen besonders gut gelungen."
Unterdessen ist das neue Wahlrecht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Bürgerschaft hat den Hamburger Politikwissenschaftler Professor Cord Jakobeit beauftragt, die Auswirkungen auf die Wahlergebnisse zu erforschen. Erste Befragungen fanden bereits am Sonntag in den Wahllokalen statt, nach Angaben der Bürgerschaftskanzlei sollen Ergebnisse und Analyse im Juni vorliegen.
Landeswahlleiter Willi Beiß warnte indes vor Panikmache. "Ich habe den Eindruck, dass die Hamburger gut mit dem neuen Wahlrecht klargekommen sind. Der Wert der ungültigen Stimmen liegt mit 3,3 Prozent sogar niedriger als 2008 mit 3,4 Prozent." Bei den 23 759 bislang als ungültig eingestuften Stimmen handele es sich um "Verdachtsfälle" - vorläufig aussortierte Wahlbögen -, die bis heute noch einmal überprüft würden. Es sei davon auszugehen, dass sich die Zahl der ungültigen Stimmen noch weiter reduzieren werde.
Manfred Brandt vom Verein "Mehr Demokratie", einer der Architekten des neuen Wahlrechts, hielt an seiner These fest, das neue Wahlrecht brauche Zeit, um breite Akzeptanz zu finden. "Die ungültigen Stimmen sind jedenfalls nicht überraschend. Das sagt auch die Literatur zur Einführung eines komplexeren Wahlrechts."
Brandt macht zwei Faktoren für die laute Kritik und die geringe Wahlbeteiligung aus. Zum einen habe von Anfang an eine "merkwürdige", eher negativ besetzte Stimmung geherrscht. Zum anderen sei die vorgezogene Wahl "der ungünstigste Fall" für die Etablierung eines neuen Wahlrechts gewesen. Es habe die Zeit gefehlt, sich intensiv damit auseinanderzusetzen.
Altbürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) hatte sich indes bereits am Wahlabend für eine Überprüfung des Wahlrechts ausgesprochen. Auch der Politikpsychologe Thomas Kliche bleibt skeptisch: "Für das Gros der Wähler funktioniert Politik nämlich wie ein Eintopf: Den kaufe ich und weiß, wie er schmeckt." Ohne Zutatendifferenzierung.