“St. Pauli 21“, der Massenprotest am Millerntor, wird getragen von der Liebe der Anhänger zu ihrem Verein, beschreibt einer der “denkbar besten Freunde“
Ein Sonntag im Juli 2009, der erste Fankongress des FC St. Pauli ist zu Ende. Zwei Tage lang haben sich 200 Mitglieder und Fans mit Präsidium, Angestellten und wichtigen Zuarbeitern des FC die Köpfe heißgeredet über Grenzen der Vermarktung jenes Vereins, der sich selbst "non established since 1910" nennt (wozu ihn niemand gezwungen hat). Glücklich über oft einmütige Ergebnisse für neue "Leitlinien" steuere ich einen unserer Vizepräsidenten an. "Danke für eure hervorragende Arbeit, ich hätte nie gedacht, dass wir einander inhaltlich so nahe sind." Die Augen von Marcus Schulz leuchten. "Geht mir umgekehrt genauso, daraus werde ich unheimlich Kraft ziehen." Er drückt mir die Hand: "Wir sind doch Vereinskameraden, sag einfach Marcus zu mir."
500 Tage nur zwischen Shakehands und Jolly Rouge - dem Symbol des neuen Massenprotestes am Millerntor. Flagge zeigen gegen überbordenden Kommerz im Stadion; vieltausendfach zu bestaunen am vergangenen Sonnabend beim Heimspiel des FC gegen Freiburg. Der schwarze Totenkopf auf rotem Grund: bis hierher und nicht weiter. Was ist da bloß passiert, dass den Vereinsoberen das Fuß(ball)volk von der Fahne gegangen und eine spontane Graswurzelbewegung entstanden ist, wie es sie hierzulande in noch keinem Stadion je gegeben hat - vom Abendblatt treffend "St. Pauli 21" genannt?
Lassen wir die Basis sprechen. Internet-Blogger "Pathos93" schreibt in seinem wunderbaren Beitrag "Die Farbe der Liebe": "Es ist die Liebe zu ihrem FC St. Pauli, die zahllose Anhänger zum Aufstand gegen die fortschreitende Assimilation an den Erstliga-Vermarktungszirkus getrieben hat. Und das Bedürfnis, ihren FC so zu erhalten ... alle werden diese Liebe im Herzen getragen haben, als sie den Eimer und die Sprühdose mit der roten Farbe öffneten."
Liebes Präsidium, ganz ehrlich: Auch wir braun-weiße Fans gucken lieber Bundesliga als 2. Liga als 3. Liga. Dafür braucht der Verein Geld. Geht klar, Chefs. Wirklich. Wir lachen uns tot, wenn wir hören, wir seien ja "gegen alles". Wir, ausgerechnet wir haben zunächst hingenommen, dass das Millerntor heute das Bundesligastadion mit den prozentual meisten VIP-Plätzen überhaupt ist: 11,5 Prozent, in real beinahe 3000 Super-Seats (nur zum Vergleich: Leverkusen 730, Bremen 800, Wolfsburg 1660). Aber allen geldwerten Blödsinn machen wir für Liga eins trotzdem nicht mit. Müssen wir euch daran erinnern, dass das Stadion heute "Poker-Room" hieße, wenn es nach Corny Littmann gegangen wäre? Wie das heute ankäme - im Zuge der Wettskandal-Enthüllungen auch um spielsüchtige Ex-Kicker des FC St. Pauli.
Nein, wir sind eben nicht euer Super-GAU. Wir sind die denkbar besten Freunde des FC! Und sein bestes und günstigstes Kapital! Entscheidend, vor allem fürs langfristige Business, ist nämlich das - hallo: Marketingsprech - Alleinstellungsmerkmal. Um auch zukünftig das "verkaufen" zu können, was der FC schon lange so erfolgreich wie dreist als "Kult" vermarktet: das einzigartige Image seiner einzigartigen Fans!
Nackttänzerinnen in der Sponsoren-Loge "Susis Show-Bar"? Sorry, geht gar nicht. Penetrant zuckende Leucht-Reklamen mit peinlichen SMS- oder Werbebotschaften während der 90 Minuten? Nee, danke. Massen von Business-Seat-"Kunden", die verspätet vom Halbzeit-Dinner zurückkommen und bei uneinholbar scheinendem Rückstand gehen? Ein No-go! "Pathos93" schreibt: "Es geht darum, Fußball als Kulturgut zu bewahren. Wenn schon die Konkurrenz kein Problem hat, ihre Identität unter Videowürfeln, Sponsorenzauber mit hundert Prozent Fremdschäm-Garantie und dem Geschrei geltungssüchtiger Stadionsprecher zu begraben - niemand nennt uns 'HSV light', und wenn wir nicht wollen, dass dies in Zukunft geschieht, dann müssen wir schon ein bisschen was dafür tun."
Genau das ist am Sonnabend geschehen. Zeit für uns alle, die hart und gemeinsam erarbeiteten Leitlinien der Einzigartigkeit neu zu leben. Voran FC Sankt Pauli, still non established 2011 - Hand drauf!