Neun von zehn Flüchtlingen kommen über die Grenze Griechenlands. Zwei Schicksalsfälle die Hamburg erreichten und doch verloren haben.
Neun von zehn Flüchtlingen, die nach Europa drängen, wählen den Weg über Griechenlands Grenze. Dabei gilt es Minen, einen gefährlichen Fluss, Militärs und demnächst einen zwölf Kilometer langen Zaun zu überwinden. Ein Geschwisterpaar aus Eritrea und eine afghanische Familie aus Hamburg haben es geschafft und doch verloren.
Die beiden Eritreer Emslan, 19, und ihr Bruder Kamal Abdullah, 24, sitzen am Vormittag auf dem Bahnhof von Orestiada, der größten Stadt im griechischen Grenzgebiet zur Türkei. Emslan trägt eine rote Lederhandtasche. Außerdem haben sie eine kleine Reisetasche dabei, einen Schlafsack, 3,20 Euro und Abschiebedokumente. Mittags und abends fährt ein Zug nach Westen. In Richtung Freiheit und in ein besseres Leben, hoffen sie.
Noch letzte Nacht waren sie Gefangene der griechischen Grenzbehörden. Dann wurden sie überraschend nachts ausgesetzt, ohne Ortskenntnisse und Verpflegung. Das knapp 1000 Kilometer entfernte Athen ist nur ihr Zwischenziel. Innerhalb von 30 Tagen müssen sie Griechenland verlassen haben. Sie möchten weiter nach Deutschland.
In der Nacht Anfang Januar, in der die beiden es nach Europa geschafft hatten, herrschten minus sieben Grad. Emslan und ihr Bruder waren mit 20 Männern, Frauen und Kindern aus Somalia, Afghanistan, dem Iran und Palästina von einer Streife der internationalen EU-Grenzschutzeinheit Frontex nahe dem Ort Nea Vissa aufgegriffen worden. "Die Polizisten haben uns Kekse, Wasser und Decken gegeben. Als sie sagten, wir sind auf griechischem Boden, habe ich vor Freude geweint", sagt Emslan in der Bahnhofshalle.
Frontex ist seit November an der EU-Außengrenze im Einsatz. Auch 27 deutsche Polizisten patrouillieren dort. Griechenland hatte die EU um Hilfe gebeten. Allein im vergangenen Jahr strömten nach offiziellen Schätzungen 128.000 Flüchtlinge hier über die EU-Außengrenze. Deshalb will der griechische Bürgerschutzminister Christos Papoutsis in den kommenden drei Monaten von Ne Vissa bis Marasia einen drei Meter hohen, gut zwölf Kilometer langen Zaun bauen. Internationale Menschenrechtsorganisationen und auch Brüssel kritisieren dieses Vorhaben. Doch genau an diesem Abschnitt haben griechische Grenzer und Frontex im vergangenen Jahr allein 32.500 Flüchtlinge festgenommen. Es wurden zuletzt auch immer mehr, weil die Türkei einen Großteil ihrer Minenfelder abgebaut und für einige afrikanische Staaten Visa-Erleichterungen eingeführt hat.
Die Griechen glauben nun, keine Alternative zum Zaun zu haben. Schon jetzt leben in Athen mehr als eine Million Flüchtlinge. Doch was für die einen ein Schutzwall ist, sehen die anderen als das letzte Hindernis zur vermeintlichen Freiheit.
Die Grenze ist bereits mit Stacheldrahtzäunen, Schlagbäumen und Postentürmen gesichert. Die Oberaufsicht hat nicht wie in allen anderen EU-Staaten die Polizei, sondern das griechische Militär. Und das hat vieles zu verbergen: Noch immer gibt es entlang der Grenze auf griechischer Seite Minenfelder, abgegrenzt von maroden, teils niedergetretenen Zäunen. Oft warnen rostige Schilder auf Griechisch und Englisch vor der hochexplosiven Lebensgefahr. Nachts, wenn sich die Flüchtlinge in der Finsternis durch die Büsche schlagen, sind die Schilder nicht zu sehen. Anwohner in den Grenzdörfern berichten, dass es öfter knallt, immer wieder Minen hochgehen. Tote durch explodierte Minen gibt es offiziell nicht. Keinen einzigen mehr in den letzten zwei Jahren.
Doch nicht überall sind Minen nötig, denn auf einem Teil der Strecke markiert der Fluss Evros ein fast unüberwindliches Hindernis.
In Hamburg erzählen traumatisierte Flüchtlinge von der griechischen Grenze
In einer Flüchtlingsunterkunft am Hamburger Stadtrand sitzen Sobhan, 6, Soheil, 8, und Sajad, 10, vorm Fernseher und schauen Zeichentrickfilme. Auch die drei afghanischen Jungen sind mit ihrer Mutter Tahere, 30, über den Evros nach Europa geflohen und nun im Landkreis Stormarn gelandet.
Zwei Zimmer, vier Feldbetten und der Fernseher - nach Wochen einer Odyssee von Afghanistan über den Iran, die Türkei und Griechenland kommt ihnen diese Unterkunft wie ein Nobelhotel vor. Sie könnten erleichtert sein, aber der Fluss Evros lässt sie nicht los. Wann immer die Jungs Wasser sehen, ob Alster oder Elbe, erinnern sie sich an die Nacht, in der sie ihren Vater in den Fluten verloren.
Es ist der 25. Juni 2010 und die Welt schaut auf Südafrika. Bei der Fußball-WM treffen Brasilien und Portugal aufeinander. Die Meldung von mehr als 16 ertrunkenen Flüchtlingen an der griechisch-türkischen Grenze ist den Zeitungen nur eine Randnotiz wert.
Gegen Mitternacht bringen Schlepper die Afghanin, ihren Mann Baschir und die drei Jungen zur Grenze. 60 Menschen pferchen sie in einen weißen Kleinbus, es gibt kaum Luft zum Atmen. Dann müssen sie eine Stunde durch tiefen Schlamm waten, bevor sie erschöpft den Evros erreichen. Der Fluss aber ist ein reißender Strom. In den Tagen zuvor hatte es viel geregnet.
"Wir wussten nichts von der Gefahr." Tahere tupft sich mit einem Taschentuch die Augen trocken.
Das Boot der Schlepper nimmt nur Frauen und Kinder auf - die anderen, auch Baschir, der nicht schwimmen kann, müssen sich unterhaken. Weit kommen sie nicht, die Menschenkette zerreißt, die Flüchtlinge kämpfen mit dem Wasser. Tahere und die drei Jungs sehen Baschir auf dem Rücken davontreiben.
Seine Augen sind geschlossen.
Am anderen Ufer schreien die Überlebenden oder starren apathisch in die Dunkelheit. Noch glauben sie, die griechische Polizei werde ihnen helfen. Auch Tahere hofft und betet, die Polizei werde Baschir finden. Er werde flussaufwärts gerettet. Doch die Grenzer helfen nicht, sondern sperren stattdessen Tahere und ihre Kinder drei Tage lang in der kleinen Polizeistation von N. Himonio ein.
Für die Strecke von Eritrea kassieren die Schlepper 3000 Dollar pro Person
Auch die wochenlange Odyssee des Geschwisterpaars aus Eritrea endet zunächst im Gefängnis. Aus ihrem Heimatdorf waren die beiden Geschwister fast zwölf Tage in den Sudan gelaufen. Ein Schleuser gab ihnen gefälschte Pässe. Über Kairo flogen sie nach Istanbul. Zu Fuß und in Kleinlastern ging es in Richtung griechische Grenze. 6000 Dollar haben sie dafür an Schleuser gezahlt. Nach ihrem Aufgriff landeten sie vier Tage im berüchtigten Gefängnis von Felakio, wo viele Hundert Flüchtlinge in Abschiebehaft sitzen.
Die rund zehn Flüchtlings-Gefängnisse entlang der Grenze sind alle völlig überfüllt. Ratten, Kakerlaken, Müll, Gestank. Es gibt kaum medizinische Versorgung, kaum Tageslicht. Familien selbst mit minderjährigen Kindern werden auseinandergerissen, viele Migranten sitzen monatelang hier fest. Der deutsche Frontex-Beamte Gennaro Di Bello, 42, seit November 2010 in Nord-griechenland im Einsatz, legt Wert auf die Feststellung, dass kein deutscher Polizist seinen Fuß in eines der Gefängnisse setze, "weil die Zustände da drin echt schlimm sind und wir sie nicht mittragen können".
Um die Flüchtlingslager besser auszustatten, sind vor Wochen 10,5 Millionen Euro Soforthilfe der EU nach Griechenlang geflossen. Sichtbar investiert wurde sie bislang nicht.
Die Flüchtlingsfamilie quält eine Frage: Wo ist der Vater Baschir?
Nach ihrer Freilassung schlägt sich Tahere mit ihren drei Söhnen nach Deutschland durch. Sie erreichen Hamburg, wo Verwandte leben. Doch erleichtert sind sie nicht. Tahere quälen Fragen: Wo ist Baschir? Lebt er noch?
Im Moment größter Hilflosigkeit treffen sie auf die Hamburger Fotografin Marily Stroux. Die gebürtige Griechin, 60, kämpft im No-Border-Netzwerk für die Rechte der Flüchtlinge. Ihr Motto: "Kein Mensch ist illegal". Ausgestattet mit Fotos und Skizzen der Ringe von Baschir und zwei anderen Vermissten des 25. Juni bricht sie noch Ende Juli nach Griechenland auf.
Der griechische Sommer ist heiß, Mücken zwingen die Menschen, in den Häusern zu bleiben. Stroux fragt bei Polizeistationen, besucht Krankenhäuser und Gerichtsmediziner, verfolgt jeden Hinweis. "Ich wollte die Männer finden, hatte aber ständig Angst, dass ihr Tod bestätigt werden würde."
Baschir ist bis heute verschollen. Statt die Vermissten zu finden, decken die Aktivisten eine weitere Ungeheuerlichkeit auf. Im Universitätskrankenhaus von Alexandroupolis ist ein Gerichtsmediziner hilfsbereit. Es gebe DNA-Proben von allen gefundenen Leichen, sagt er und fügt stolz hinzu, dass diese nach muslimischem Brauch respektvoll im Ort Sidiro beerdigt würden.
Doch er irrt, wie Stroux bald herausfindet. In Sidiro, einem Ort mit vielen muslimischen Einwohnern, zeigt ihnen ein Grieche den Weg zur Beerdigungsstelle, die allerdings weitab vom örtlichen Friedhof liegt. "Wir fanden am Ende eines Schotterwegs auf einem Berg ein Massengrab. Auf einem Schild stand: Friedhof der illegalen Flüchtlinge. Irgendjemand hatte es als Zielscheibe benutzt. Es war völlig durchlöchert", sagt Stroux. Rund 100 Flüchtlinge sollen dort verscharrt worden sein. Ein Beerdigungsunternehmer und der Mufti hätten 700 Euro pro toten Flüchtling erhalten, die sie menschenunwürdig, aber kostengünstig begruben.
Massengräber, Minenfelder und Panzersperren
Im Sperrgebiet wird in diesen Tagen fleißig gebaut. Mit schwerem Gerät heben Soldaten Panzersperrgräben aus - zehn bis 15 Meter tief, 15 bis 30 Meter breit und Hunderte Meter lang. "Das Militär ist für uns ein echtes Problem. Wir dürfen im Sperrgebiet keine Hubschrauber einsetzen. Und wenn wir für Verletzte einen Rettungswagen brauchen, kann der nicht so einfach und vor allem schnell herkommen", klagt ein deutscher Frontex-Polizist, der erst seit wenigen Tagen in einem mit Wärmebildkamera und Nachtsichtgeräten ausgestatteten Einsatzwagen patrouilliert. "Ich denke, nach EU- und Menschenrechten ist das nicht tragbar. Im Grunde ist es unser Job, dass die Flüchtlinge nicht in die Minenfelder laufen oder in Panzergräben stürzen. Die sehen doch bei Nacht und Nebel nichts und brechen sich da drin das Genick."
Vier Tote habe er bereits bergen müssen, sagt ein anderer Frontex-Mann: "Das belastet mich sehr. Aber schreiben Sie nicht meinen Namen."
In der Flüchtlingsunterkunft am Rande Hamburgs versucht Tahere mit traditioneller Stickerei die Zeit und die Erinnerungen zu vertreiben. Ihre Motive zeigen Szenen aus Tausendundeiner Nacht. Rassige Pferde, starke Männer, anmutige Frauen.
Der Asylantrag ist noch offen, eine bessere Wohnung nicht in Sicht. Sie und die Kinder bräuchten dringend psychologische Betreuung und Deutschkurse. Aber wer zahlt dafür?
Ihre letzte Hoffnung, endlich Klarheit über Baschirs Schicksal zu erhalten, hängt an einer DNA-Probe, die mit jenen der Opfer in Griechenland verglichen werden müsste. Doch dazu müsste Tahere ein bürokratisches Getriebe aus deutscher Polizei, Interpol und griechischen Beamten in Bewegung setzen - ein Kraftakt, der ihr unmöglich scheint.
Was gibt der 30-jährigen Frau Hoffnung? Ihr sechsjähriger Sohn Sobhan darf endlich in den Kindergarten gehen. Und die Älteren Soheil und Sajad zur Schule. Fast wie bei einer normalen Familie in Hamburg.