Europa steht Haiti bei, bekräftigt die Vizepräsidentin der EU-Kommission ein Jahr nach dem verheerenden Beben. Aber die Behörden müssten die Ruhe wiederherstellen
Von allen Katastrophen, die die Welt 2010 erschütterten, hat das Erdbeben in Haiti die Wunde gerissen, die am schwersten zu heilen ist. Ein Jahr nach dem zweitschlimmsten Erdbeben seit Menschengedenken ist diese Wunde noch immer frisch. Nur wenige Monate nach dem Beben kamen weitere Schicksalsschläge hinzu: Hurrikan Tomas, die Cholera-Epidemie und - in jüngster Vergangenheit - politische Instabilität.
Diese Tragödien trafen ein Land, das bereits zu den ärmsten der westlichen Hemisphäre zählte. Ein Land, dessen Einwohner in der Mehrheit ihre tägliche Nahrung nur dank ausländischer Hilfe erhielten und das durch ein unterentwickeltes Gesundheitswesen, ein unzureichendes Straßennetz und die Folgen jahrelanger schlechter Regierungsführung gekennzeichnet war. Das Erdbeben hat diese schwierige humanitäre Lage massiv verschärft.
Die Lage in Haiti nach dem Beben war beispiellos: Die Hauptstadt zerstört, die Infrastruktur verwüstet, Regierung und Hilfsorganisationen hatten viele Mitarbeiter und Einrichtungen verloren.
Die politische und zivile Unruhe heute ist Anlass zur Sorge. Die Lage könnte sich verschlimmern und damit den Wiederaufbau verlangsamen. Daher fordern wir die haitianischen Behörden auf, die Ruhe wiederherzustellen und schnell eine anerkannte und besser funktionierende Regierung einzusetzen. Die neue Regierung sollte die Führungsrolle beim Wiederaufbau übernehmen und solide Lösungen für die zahlreichen Probleme bieten, die die Bevölkerung Haitis erst so verwundbar gemacht haben. Als die Katastrophe zuschlug, leistete die EU humanitäre Soforthilfe und entwickelte in enger Absprache mit anderen Gebern ein langfristiges strategisches Vorgehen.
Seither haben wir unsere Zusagen erfüllt. Auf der internationalen Geberkonferenz im März 2010 hat die EU 1,2 Milliarden Euro zur Unterstützung der Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen in den nächsten drei Jahren zugesagt. Hiervon wurden 600 Millionen Euro - für Nahrungsmittel und Notunterkünfte, medizinische Hilfe, Straßeninstandsetzung und Schulen eingesetzt. Zudem konnte Haiti damit grundlegende Sozialleistungen aufrechterhalten. Mit unserer Hilfe konnte der totale Zusammenbruch des Staates verhindert werden. An der Grundausrichtung unserer Hilfe wollen wir festhalten.
Als erste Hilfe haben wir den Gesundheitsbereich und die Bereitstellung von Unterkünften, Wasser und Nahrungsmitteln koordiniert. Wir haben konstruktiv mit der Bevölkerung, Regierungsstellen, dem Militär sowie Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen zusammengearbeitet, um unter den schwierigen Umständen ein möglichst effektives Vorgehen zu gewährleisten. Inzwischen bemühen wir uns, Soforthilfe und Wiederaufbau zu verknüpfen, indem wir beispielsweise Bargeld als wichtiges Hilfsmittel einsetzen, um die lokale Bevölkerung aktiv in die Hilfsmaßnahmen einzubinden und damit langfristig ihre Existenzgrundlagen wiederherzustellen. Hierdurch wurden auch die üblichen Auswirkungen von Katastrophen - Krankheit und Unterernährung - begrenzt.
Sauberes Wasser hat Vorrang, wie uns die Cholera-Epidemie zeigt. Daher hat die Europäische Kommission zusätzliche 22 Millionen Euro zur Unterstützung der Helfer vor Ort mobilisiert. Über 500 000 Menschen haben so Zugang zu sauberem Wasser, über fünf Millionen Menschen Zugang zu hygienischeren Toiletten und eine Million Haitianer erhalten Informationen über Hygienepraktiken. Dank dieser Maßnahmen sanken die Choleraerkrankungen und die dadurch verursachten Todesfälle zwei Monate nach Ausbruch der Epidemie - bis zu den Unruhen Mitte Dezember.
Doch das Erdbeben und die Cholera zu überwinden ist erst der Anfang. So großzügig und dauerhaft unsere Hilfe auch ist, Wunder kann sie nicht bewirken. Es bleibt weiterhin enorm viel zu tun. Zu viele Menschen leben noch immer in Lagern. Das heißt nicht, dass unsere Bemühungen zu schwach waren, oder dass das Geld unserer Steuerzahler vergeudet wurde und die Arbeit unserer Experten umsonst war. Ganz im Gegenteil - unsere Unterstützung als EU hat den totalen Kollaps des Landes verhindert, indem der Betrieb von Schulen und Krankenhäusern, die Agrarproduktion und Wirtschaftstätigkeit und die Mobilität im Land aufrechterhalten werden konnten.
Die Aufgaben, die vor uns stehen, sind so gewaltig wie diejenigen, vor denen wir in den letzten zwölf Monaten standen: Haiti muss in die Lage versetzt werden, aus eigener Kraft auf dem langen Weg zu nachhaltiger Entwicklung voranzukommen. Unser Ziel ist es, die haitianischen Behörden dabei zu unterstützen, ein Land quasi "aus dem Nichts" wieder aufzubauen. Die Wahrung eines gerechten, ruhigen und transparenten Wahlverfahrens und die Schaffung einer gut funktionierenden und legitimen Regierung sind dabei von grundlegender Bedeutung.
Die internationale Gemeinschaft hält unerschütterlich an ihrer Solidarität mit Haiti fest. Wir in der Europäischen Union sind überzeugt, dass diejenigen, die im vergangenen Jahr geholfen haben, auch weiterhin helfen werden. Die Alternative, nämlich dass Haiti wieder in einen anhaltenden Kreislauf von Verzweiflung, Not und Instabilität gerät, ist schlicht inakzeptabel.