Dorothea Buck ist eine von etwa 400.000 Menschen, die von den Nazis zwangssterilisiert wurden. Als NS-Verfolgte anerkannt werden sie nicht.

Hamburg. Am nächsten Morgen, würde etwas mit ihr passieren. Das ahnte sie. Eine Schwester war zu ihr ans Bett gekommen und hatte ihr die Schamhaare abrasiert. „Warum?“, fragte Dorothea Buck. „Für einen notwendigen kleinen Eingriff“, sagte die Schwester. Am nächsten Morgen stand Dorothea Buck in weißen Baumwollstrümpfen und kurzem Operationshemd im Vorzimmer des Operationssaals. Sie bekam eine Spritze. Was in den folgenden Stunden mit ihr geschah, merkte sie nicht, die Narkose wirkte so lange, bis sie in einem Viererzimmer in der Station für Depressive wieder aufwachte. Sie fragte: „Was haben Sie mit mir gemacht?“ Niemand redete mit ihr. Bis ihr schließlich eine Mitpatientin zuflüsterte: „Du bist zwangssterilisiert worden.“

Es passierte am 18. September 1936 in einer psychiatrischen Anstalt in Bielefeld. Dorothea Buck war 19 Jahre alt – und Adolf Hitlers Nationalsozialisten seit drei Jahren an der Macht.

Wer 75 Jahre später Dorothea Buck besuchen will, muss erst einmal den Weg durch einen Schnelsener Garten zu ihrem kleinen Gartenhaus finden. Drinnen sieht es aus wie in einer anderen Zeit: Der Fußboden ist aus grünem Linoleum, Tische und Stühle stehen ungeordnet herum. Überall liegen Psychologie-Bücher. Der Ölofen blubbert. Auf dem Fensterbrett stehen Skulpturen, an den Wänden hängen Aquarelle. Buck ist nach dem Krieg in die Kunst geflüchtet.

Sie wohnt hier seit 50 Jahren, und seitdem hat sich in der Wohnung wenig geändert. Außer dass sie eine Toilette mit Wasserspülung bekommen hat.

Dorothea Buck ist 93 Jahre alt. Das Laufen fällt ihr schwer – der Rücken, die Beine – aber ihre Gedanken sind klar. Sie hat wache blaue Augen. Manchmal kichert sie wie ein Mädchen.

Dorothea Buck wurde am 5. April 1917 geboren. Ihr Vater war Pastor, die Familie lebte auf der ostfriesischen Insel Wangerooge. Ihren ersten schizophrenen Schub hatte sie am 2. März 1936. „Ich war plötzlich davon überzeugt, dass ich die Braut Christi sei und meinen inneren Impulsen folgen sollte.“ Am 9. April 1936 trieb es sie in die Dünen hinaus. Sie durchschwamm einen Priel, übernachtete in einer Dünenmulde, beobachtete die Sterne – sie fühlte sich wie das Volk Israel, das Moses durchs Meer folgte.

Ihre Eltern und die Ärzte waren ratlos und schickten sie in die Psychiatrie

Buck wachte im Bett ihrer Mutter auf. Man hatte sie bewusstlos am Strand gefunden. Ihre Familie war ratlos, auch weil Dorothea Buck nicht von ihrer Meinung abrückte, dass sie die Braut Christi sei. Der Hausarzt kam. Er war ratlos und überwies Buck ins Krankenhaus nach Jever. Die Ärzte dort waren ebenfalls ratlos – und schickten sie nach Bethel, in die Bodelschwing'schen Anstalten in Bielefeld.

Dorothea Buck greift nach einem Buch, schlägt es auf und liest vor. Sie betont die wichtigsten Stellen, ihre Stimme bleibt ruhig. Obwohl die Worte über ihr Schicksal entschieden haben. Sie wirkt nicht emotional – weil sie aus ihrem Leid eine Mission gemacht hat. Buck zitiert: „Ich möchte es als Pflicht und mit dem Willen Jesu als konform ansehen. Ich würde den Mut haben, hier im Gehorsam gegen Gott die Eliminierung an anderen Leibern vollziehen.“ Es sind Worte von Pastor Fritz von Bodelschwingh. Der Leiter der Bielefelder Anstalten befürwortete schon zwei Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten die Sterilisierung von psychisch Kranken.

Buck kam erst auf die „unruhige Station“, einen Saal mit 13 Frauen. Das Personal sprach nicht mit den Patientinnen. Wenn eine der Frauen schrie, wurde sie zum Schweigen gebracht. „Es gab die nasse Packung“, sagt Buck. „Man wurde in ein nasses Tuch eingewickelt – so fest, dass man sich nicht bewegen konnte. Oder es gab kalte Kopfgüsse. Oder 23-stündige Dauerbäder. Oder Prügel, bis einem der Atem wegblieb.“ An der hellgrünen Wand war ein Bibelspruch aufgemalt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“

"Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken" (Bibelzitat, geschrieben an der Wand der Sterilisationsklinik).

Eines Tages wurde sie in ein Zimmer gerufen, in dem ein Tisch stand. Drei Herren saßen davor, sie hatten Akten vor sich. „Warum sind Sie ins Watt gegangen?“, fragten sie, und Dorothea Buck erzählte ihnen die Geschichte von der Braut Christi. Dass die Herren das Erbgesundheitsgericht bildeten, das über ihre Zwangssterilisierung befand, wusste Buck nicht. Einige Tage später stand sie in weißen Baumwollstrümpfen und kurzem Operationshemd im Vorzimmer des Operationssaals.

Dorothea Buck wollte Kinder bekommen. Sie wollte seit ihrem zwölften Lebensjahr Kindergärtnerin werden. Das alles ging jetzt nicht mehr. „Wir galten ja im Nationalsozialismus als minderwertig, als lebensunwert.“

In der „Rassenhierarchie“ der Nationalsozialisten standen Menschen wie sie noch unter den Tieren. Um sogenanntes „unwertes Leben“ auszumerzen, wurden in den Jahren bis 1945 mindestens 300.000 Menschen umgebracht und weitere 350.000 bis 400.000 Menschen zwangssterilisiert. „Minderwertige, Schwachsinnige und Schizophrene“, aber auch körperlich behinderte Menschen, Taube, Blinde oder schwere Alkoholiker wurden sterilisiert. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 war die juristische Legitimation. Bis zu 6000 Frauen und etwa 600 Männer starben an den Folgen des Eingriffs.

Auch in Ländern wie den USA und Schweden gab es seit Beginn des 20. Jahrhunderts Forderungen und Gesetze zur Sterilisation von „Minderwertigen“ oder kriminellen Menschen. Doch nur hier war die „rassenhygienische Bürokratie“ Teil einer rassistischen Mordpolitik. Von 1933 bis 1945 wurden in Deutschland 14-mal mehr Menschen sterilisiert als in den USA.

Ihre Mutter stimmte der Sterilisation zu, auf Druck der Mediziner

Dorothea Buck hatte nach dem Eingriff Selbstmordgedanken. Damals sagte sie sich, dass sie erst einmal ein Jahr planen wolle, ein Jahr konnte sie füllen, sagt sie. Sie merkte, dass sie weiterleben wollte. 1937 wurde sie entlassen.

Sie ist Bildhauerin geworden, ausgebildet an der Frankfurter Kunsthochschule und der Kunsthochschule Hamburg. Ihre Skulpturen heißen „Schmerz“, „Geleitetes Kind“ oder „Trauernde“. Ihr Leid verarbeitete sie in der Kunst.

„Meine Eltern haben dafür gesorgt, dass ich einen befriedigenden Beruf bekomme“, sagt sie. Ihre Eltern. Natürlich wussten sie, was mit ihrer Tochter passiert war. „Meine Mutter wurde vor die Wahl gestellt – entweder meiner Sterilisation zuzustimmen oder mich bis zum 45. Lebensjahr in der Anstalt zu lassen.“ Also stimmte sie zu. Dorothea Buck hat später versucht, mit ihren Eltern über das Thema zu sprechen. Aber ihre Eltern schwiegen. Die Ärzte hatten dazu geraten, die Eltern hielten sich daran, aus Hörigkeit.

Die Arbeit als Bildhauerin gab Buck neuen Halt. Anfang der 60er-Jahre las sie zum ersten Mal nach dem Krieg einen Artikel über Zwangssterilisierte. Sie erfuhr, dass viele der Ärzte, die Zwangssterilisierungen vornahmen, immer noch praktizierten. „Es gab Ärzte, die Patienten in den Tod geschickt haben und nach dem Krieg Karriere machten. Die psychiatrischen Mörder haben weiter leben und arbeiten können“, sagt Buck. Sie konnte nicht mehr arbeiten, sagt sie. „Wo es an der einfachsten Menschlichkeit fehlt, kann ich keine Kunst mehr machen“, sagt sie heute. Bis 1982 hat sie ihr Geld als Lehrerin für Kunst und Werken verdient.

Seit den 50er-Jahren hatte sie keinen schizophrenen Schub mehr, sagt sie. Sie habe ihre Krankheit verstanden – und wollte sich deshalb für andere einsetzen. Für eine Entschädigung und für eine menschliche Psychiatrie.

In den 50er-Jahren war es auch, als die Parlamentarier der jungen Bundesrepublik in Bonn die Entschädigungsgesetze beschlossen. Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist, heißt es in Paragraf 1 des Bundesentschädigungsgesetzes. Doch wer als „rassisch verfolgt“ gilt, legten die Politiker nicht fest. Darüber sollen Gutachter, die zuständigen Behörden und im Zweifelsfall Gerichte entscheiden. Zwangssterilisierte wie Dorothea Buck sind bis heute nicht offiziell als Verfolgte anerkannt. „Ärzte und ehemalige NS-Juristen, die selbst in das Unrecht der Nationalsozialisten verstrickt waren, wurden in den 50er- und 60er-Jahren Gutachter vor Gerichten und sogar vor dem Bundestag und leugneten natürlich zumeist den Unrechtsgehalt ihres früheren Wirkens“, erklärt der Berliner Wissenschaftler Günter Saathoff, der sich seit 25 Jahren mit dem Thema Entschädigung beschäftigt. Nach der Rechtsprechung von 1955, mit der auch heute noch argumentiert wird, handelt es sich beim Erbgesundheitsgesetz nicht um ein Rassengesetz.

Margret Hamm von der Arbeitsgemeinschaft Bund der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten findet das „beschämend“. Seit Anfang der 90er-Jahre kämpft sie für die Rechte von Menschen wie Dorothea Buck. „Erst wenn der Letzte gestorben ist, werden sie die Zwangssterilisierten als Verfolgte der NS-Diktatur anerkennen“, sagt sie. Solange das nicht der Fall ist, seien die Politiker getrieben von einer Angst vor Folgezahlungen an die wenigen noch lebenden Opfer. Aber in Wahrheit dürften es nicht die Zwangssterilisierten sein, deren Forderungen die Politiker fürchten, es gibt gerade mal 900, viele schweigen aus Scham bis heute, andere sind bereits gestorben. Experten zufolge käme das gesamte Bundesentschädigungsgesetz auf den Prüfstand: Würden die Zwangssterilisierten offiziell anerkannt, müssten auch verfolgte Gruppen wie Homosexuelle, sogenannte Asoziale und auch Opfer der NS-Verbrechen in Osteuropa Zugang zum Gesetz bekommen – mit allen rechtlichen, finanziellen und bürokratischen Konsequenzen.

"Aber auch wenn es mehr Geld gäbe, sind wir immer noch nicht als NS-Verfolgte anerkannt. Das ist ein Skandal". (Dorothea Buck)

Buck schrieb Briefe an die Bundesregierungen. Sie gründete den „Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener“, dessen Ehrenvorsitzende sie bis heute ist. Sie entwickelte ein Konzept für eine menschlichere Psychiatrie. Betroffene, Angehörige und Spezialisten sollten zusammen dafür sorgen, dass die gesprächslose Therapie aus deutschen Psychiatrien verschwindet. „Trialog“ hat Buck ihren Ansatz genannt. Dafür hat sie das Bundesverdienstkreuz bekommen.

Erst Ende der 1980er-Jahre stellte der Bundestag fest, dass die Urteile der „Erbgesundheits“-Gerichte nationalsozialistisches Unrecht waren. Es ist auch diese Zeit, in der Opfer der Zwangssterilisierung erstmals Geld für dieses Unrecht verlangen konnten. Heute bekommen Geschädigte bisher zu den monatlichen 120 Euro als „Härteleistung im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes“ einmalig 2556,46 Euro bezahlt.

120 Euro im Monat. Es ist eine Grundrente, mehr nicht. Die Bundestagsfraktionen von Union, FDP, SPD und Grünen wollen diesen Beitrag jetzt erhöhen. Opfer der Zwangsterilisierung sollen rückwirkend ab dem 1. Januar 2011 monatlich 291 Euro erhalten. Das geht aus einem interfraktionellen Antrag hervor, der dem Hamburger Abendblatt vorliegt. Auch die wenigen, die die Euthanasie überlebt haben, sollen von diesem Jahr an knapp 300 Euro erhalten. Der Betrag orientiert sich an den Zahlungen für jüdische NS-Opfer, die Gefangenschaft in einem Konzentrationslager oder Getto erlitten und keine Leistungen aus dem Bundesentschädigungsgesetz von 1953 bekommen haben.

Von einer höheren Rente würde sie eine Haushaltshilfe bezahlen

In der zweiten Februarwoche soll im Bundestag über die Erhöhung der Rente debattiert werden. „Das Leid dieser Menschen wurde lange nicht als typisches NS-Unrecht anerkannt. Dabei war das ,Erbgesundheitsgesetz' das erste Rassengesetz des NS-Staates“, sagt Volker Beck, Menschenrechtsexperte der Grünen. Man hätte die Opfer der Zwangssterilisierungen bereits 1953 in das Bundesentschädigungsgesetz aufnehmen müssen, ergänzt Beck. Dennoch schrecken einige Politiker nach wie vor davor zurück, das Bundesentschädigungsgesetz anzutasten. Die Angst vor rechtlichen, finanziellen und bürokratischen Konsequenzen gab es in den 50er-Jahren – und es gibt sie offenbar auch im Jahr 2011.

Dorothea Buck würde sich freuen, wenn sie mehr Geld bekäme. Sie würde eine Freundin, die ihr im Haushalt und beim Briefeschreiben hilft, als Sekretärin einstellen. Viele Betroffene leben allein und werden auch nicht von ihren Familien versorgt. Weil sie keine Familie haben. „Aber auch wenn es mehr Geld gäbe, sind wir immer noch nicht als NS-Opfer anerkannt. Das ist ein Skandal“, sagt sie.

Verheiratet war sie nie, höchstens mit der Kunst. Sie ging mit einem Organisten. Aber die Beziehung scheiterte, weil sie keine Kinder kriegen konnte. „Ich bin nicht traurig drum“, sagt Dorothea Buck heute. „Im Alter sind Männer ein bisschen senil. Frauen halten sich da besser.“ Sie kichert.