Gericht verurteilt Angeklagte lediglich wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen. Daraufhin gab es Tumulte im Gerichtssaal.
Neustadt. Es ist kein einziger Platz frei im Gerichtssaal, das sieht man nicht alle Tage. Die Zuschauer blicken stumm auf die Angeklagten, sie verlangen Satisfaktion. Sühne für das, was Matthias R. widerfahren ist. Er ist ihr Bruder, ihr Onkel, ihr Freund. Und seit jenem 29. Mai ein anderer Mensch: Der 40-Jährige ist kaum noch in der Lage, einen Satz deutlich auszusprechen. Er ist schwerbehindert, und für die Zuschauer sitzen diejenigen, die schuld daran sind - zwei hagere junge Männer - vorne auf der Anklagebank.
Als die Richterin das Urteil verkündet, verwandelt sich die erste Enttäuschung in blanke Wut. "Das ist eine elende Schweinerei", schreit einer. Er stapft voller Zorn aus dem Saal und lässt die Tür mit Karacho ins Schloss fliegen. Andere folgen ihm.
Es sind dramatische Szenen, die sich in- und außerhalb des Saals abspielen. "Skandal-Urteil" ist noch einer der milderen Ausdrücke für das Ende einer Verhandlung, die für Schlagzeilen gesorgt hat. Knapp zwei Monate mussten sich Patrick W., 30, und Nehat H., 33, vor dem Landgericht verantworten, weil sie laut Anklage zunächst die Freundin des 40-jährigen Matthias R. belästigt und ihn dann auf dem U-Bahnsteig Niendorf-Markt beinahe totgeprügelt hätten. Nach einem Faustschlag war der Ingenieursstudent wie ein Stein auf den Hinterkopf gefallen, zog sich multiple Schädelverletzungen zu und rang tagelang mit dem Tod. Matthias R. wird nie mehr der Alte sein. Vielleicht, so das Gericht, wird er irgendwann drei Stunden am Tag arbeiten können. Vielleicht in einer Behindertenwerkstatt.
Doch die Kammer hat die Angeklagten gestern vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen, sie lediglich wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen zwischen 1000 und 5250 Euro verurteilt, weil sie ihr schwer verletztes Opfer nach der Attacke im Stich ließen. In den Ohren der Freunde von Matthias R. klingt die Begründung wie blanker Hohn: Die Angeklagten hätten in "Notwehr" gehandelt. "Dieses Urteil", sagt der Bruder des Opfers, "ist ein Freifahrtschein für alle U-Bahn-Schläger."
Ganz offen spricht indes die Kammer von einem "unbefriedigenden Ergebnis" der Beweisaufnahme. Die krankte vor allem an den kaum verwertbaren Aussagen der Zeugen. Zwar haben die Überwachungskameras das elfsekündige Tatgeschehen auf dem Bahnsteig genau aufgezeichnet. Doch selbst die Freundin von Matthias R. - die Person, die am ehesten über die Entstehung des Streits hätte Angaben machen können - erinnerte sich kaum noch. An jenem Abend wartete sie mit dem 40-Jährigen am U-Bahnsteig Niendorf-Markt. Patrick W., der gerade angetrunken von einem Volksfest kam, habe dort herumgeblödelt und obszöne Sprüche gemacht. Bedroht habe sie sich aber nicht gefühlt. Dass er die Frau belästigt hatte, wie die Anklage behauptete, konnte die Kammer ihm daher nicht nachweisen. Und das ungebärdige Verhalten sei weder strafbar, noch rechtfertige es einen Angriff durch Matthias R. Tatsächlich sei der 1,90 Meter große, 100 Kilogramm schwere Mann aufgestanden und habe sich dem schmächtigen Patrick W. "in bedrohlicher Haltung" und "in schnellen Schritten" genähert - eine provokante Geste. Der 30-Jährige habe sich zu Recht angegriffen gefühlt und "angemessen" reagiert, indem er nach Matthias R. getreten habe, um ihn auf Abstand zu halten. Auch der fatale Faustschlag durch Nehat H. sei in diesem Moment "erforderlich" gewesen und rechtlich als Nothilfe zu werten. Zudem habe Nehat H. nach Aussagen einer medizinischen Sachverständigen mit solchen Verletzungen nicht rechnen können, es handele sich um einen "Unglücksfall", so die Richterin.
Gut möglich, dass die Staatsanwaltschaft, die zweieinhalb und drei Jahre Haft gefordert hatte, Revision beantragt. Die Nebenklage munitioniert sich schon für die nächste Instanz. "Es ist nicht nachvollziehbar", sagt Opferanwalt Gregor Maihöfer, "dass ein bloßes Aufstehen eine Provokation sein soll."
Zurück bleibt die Verzweiflung der Angehörigen, deren Glauben an eine Justiz, die Gerechtigkeit schafft, in fünf Minuten zerstört wurde. Für sie hat das Bild, wie die vermummten Angeklagten, von Justizangestellten eskortiert, den Saal verlassen, Symbolkraft. Die in Tränen aufgelöste Nichte des Opfers brüllt ihnen hinterher: "Ihr habt das Leben meines Onkels ruiniert." Mehr kann sie im Gericht nicht für ihn tun.