Die ARD hat ihr Programm verändert und setzt voll auf Talkshows. Das öffentliche Diskutieren liegt bei den Zuschauern hoch im Kurs, auf allen Kanälen.
Die Deutschen und ihr Stammtisch, das hat Tradition. Wer am Stammtisch im Wirtshaus gegenüber der Kirche Platz nehmen durfte, hatte was zu sagen und wurde gehört. Es handelte sich zumeist um gebildetere und daher auch wohlhabendere Vertreter des Vereins, des Dorfes, der Gemeinde oder der Stadt. Im Mittelpunkt der Stammtischrunde stand vordringlich die Geselligkeit, doch ging es auch stets politisch und philosophisch zur Sache, manchmal sehr rau, manchmal auch herzlich.
Mittlerweile hat der traditionelle Stammtisch in der verrauchten Gaststube an Bedeutung verloren. Er ist zur Kontaktbörse verkommen, zum lockeren Treffpunkt für Gleichgesinnte gleich welchen Interesses. Nur die Stammtischparolen leben weiter, und wie: Sie werden ununterbrochen in klimatisierten Fernsehstudios postuliert, von modernen Vertretern wichtiger gesellschaftlicher Gruppen. Allabendlich, in der ARD, dem ZDF, Sat.1, Phoenix oder auf N24: Unser täglich Talk gib uns heute. In allen Facetten, schmutzig, unterhaltend, investigativ. Nur der Sonnabend ist sabbelfrei.
Die telegenen, eloquenten Moderatorinnen und Moderatoren, von Maischberger bis Kerner, haben die Aufgabe zu vermitteln und aufzupassen, dass das große Gähnen ausbleibt. Diese amerikanische Erfindung aus den 1950er-Jahren wurde im Jahr 1973 erstmals in Deutschland ausgestrahlt: Die Sendung hieß "Je später der Abend ...", der Gastgeber war Dietmar Schönherr und sie wurde vom WDR produziert. Es war der Startschuss für den deutschen Talkshowboom, der bis heute anhält, stärker denn je.
Der WDR, größter und finanziell potentester Sender in der Arbeitsgemeinschaft deutscher Rundfunkanstalten, war auch - gemeinsam mit dem NDR - federführend bei dem umstrittenen Plan, trotz der vielen bestehenden Quasselformate im Ersten, mit Günther Jauch den König der deutschen Dampfplauderer für ein wöchentliches Talkformat zu verpflichten; ab Herbst des kommenden Jahres immer am Sonntag nach dem Krimi, 39-mal pro Jahr. Die kolportierte (und bisher nicht dementierte) Summe von 10,5 Millionen Euro Produktionskosten - Jauchs Honorar inklusive - steht im Raum, was einem Minutenpreis von rund 4500 Euro (für 60 Minuten Sendelänge) beziehungsweise rund 3600 Euro für 75 Minuten entsprechen würde. Niemand kann daher noch behaupten, alle Talkshows seien bloß billige Produktionen und nur deshalb bei Programm-Machern so beliebt. Tatsächlich müssen sich viele Dokumentationen längst mit einem weitaus kleineren Budget begnügen.
Wegen des Jauch-Coups muss Kronprinzessin Anne Will jetzt auf den Mittwoch umziehen, Frank Plasberg darf mit "hart aber fair" künftig am Montagabend um 21 Uhr ran, Reinhold Beckmann beruhigt nun donnerstags statt montags; nur Sandra Maischberger darf an ihrem gewohnten Sendeplatz am Dienstag bleiben. Bis auf "hart aber fair" startet der Talk um 22.45 Uhr nach den "Tagesthemen", die nun einheitlich immer um 22.15 Uhr beginnen - ein Gerüst, das für den ARD-Programmdirektor Volker Herres eine "Herzensangelegenheit" war und ist. Doch schon vor dieser ARD-Intendanten-Entscheidung im Kampf um die Gunst der Zuschauer gab es mächtig Ärger. Denn mit dem neuen Sendeschema wird die "Dokumentation am Montagabend" ersatzlos gestrichen. Zwar werde "Das Erste" seiner Tradition treu bleiben und auch künftig zwölf 90-minütige Dokumentarfilme im Jahr ausstrahlen, so Volker Herres, doch dieses klassische TV-Format wird dann zukünftig erst um 22.45 Uhr, vor allem aber in der talkfreien Zeit ausgestrahlt.
Der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen hat sein "Erstes" dafür kürzlich auf dem 15. Mainzer Mediendisput öffentlich gescholten: Es sei nicht akzeptabel, wenn Reportagen und Dokumentationen in die Nacht rutschten, sagte er der Nachrichtenagentur dapd, denn Talkshows könnten nun mal keine Hintergrundberichterstattung ersetzen. Pleitgen sieht es als Fehler an, Kernelemente wie Reportagen und politische Magazine aus dem Hauptprogramm zu verbannen. Natürlich gehörten Polittalks wie "hart aber fair" ins ARD-Hauptprogramm, Dokumentationen jedoch auch. Dieser Kritik schloss sich die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG DOK) an: In einem offenen Brief baten sie die ARD-Intendanten, "die unabhängige Dokumentarfilmproduktion in Deutschland zu retten." Denn würden Dokumentarfilme in der ARD noch weiter an den Rand gedrängt, könnten auch viele journalistische Filmemacher ihren Beruf an den Nagel hängen.
Unterstützung erhielt die AG DOK von Kulturstaatsminister Bernd Neumann, der ebenfalls ein Schreiben verfasste, das er an den ARD-Vorsitzenden Peter Boudgoust und den Programmdirektor Volker Herres, schickte: "Würde dies umgesetzt, muss ich dies deutlich missbilligen. Die Dokumentationen der ARD am Montagabend gehören zum Kern des Grundversorgungsauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Durch Reduzierung der informativen und kulturellen Programmanteile oder deren Verbannung auf unattraktive Sendeplätze entfernt sich die ARD von ihrem Auftrag und stellt dadurch irgendwann auch ihre Existenz infrage", schrieb der Minister, aber die Intendanten entschieden sich bekanntlich anders.
Damit sind die Medienfürsten nun endgültig nicht mehr vor dem Verdacht gefeit, im Sog des gefürchteten Mainstreams nur noch die Quotenjagd auf dem Schirm zu haben. Schließlich wird in einer Dokumentation die Wirklichkeit nicht nur bequatscht, sondern gezeigt. "In einer Zeit, in der Politikberichterstattung und gesellschaftlich relevante Themen bei der kommerziellen Konkurrenz kaum mehr eine Rolle spielen, setzt die ARD mit der Vereinheitlichung der 'Tagesthemen'-Anfangszeiten, mit fünf exzellenten Talkshows und festen Sendeplätzen für Dokumentationen, Dokumentarfilme und politische Magazine ein klares Signal für den Mehrwert öffentlich-rechtlichen Fernsehens", konterte Peter Boudgoust auf der Pressekonferenz nach der Intendantentagung. Feste Sendeplätze klingt immer prima, zu nachtschlafender Zeit weniger gut.
Auch das immer wieder heraufbeschworene wachsende Desinteresse an den täglichen Redescharmützeln vor Kameras können die ARD-Verantwortlichen locker an sich abtropfen lassen: "Die Zuschauer haben offensichtlich eine andere Wahrnehmung als einige Medienexperten", sagte Volker Herres dem Hamburger Abendblatt. "Alle unsere derzeit vier Talkformate sind erfolgreich und haben in jüngster Zeit bei der Quote sogar noch zugelegt - also eher ein Indiz für ein stabiles bis steigendes Publikumsinteresse." Herres sieht den Erfolg der ARD-Talkshows in der Vielfalt: "Wenn wir den Zuschauern vier- oder fünfmal die Woche das Gleiche vorsetzen würden, dann würden wir vollkommen zu Recht von ihnen abgestraft. Aber unsere Talks haben alle ihr eigenes Profil und sind sehr lebendig, denn an den Konzepten wird ständig gearbeitet. Wenn Sie zum Beispiel 'Beckmann' vor zehn Jahren mit 'Beckmann' heute vergleichen, sehen Sie eine andere Sendung."
Das Problem der Kritiker, die durch den "Talkshow-Overkill" eine noch stärkere Verflachung der Programme befürchten, sind die Zuschauer selbst: Denn die mögen die tägliche Quasselbude wirklich, auch wenn die Gesichter der Gäste sich häufig wiederholen - auf allen Kanälen. Einem Guido Westerwelle kann man beispielsweise kaum entkommen, einem Hans-Olaf Henkel auch nicht und einer Renate Künast sowieso nicht. Doch solange die gemessenen Einschaltquoten das Programmangebot gutheißen, behalten Talkshows ihre Berechtigung. "Die Angst der Programmverantwortlichen vor neuen Formaten kann ich nachvollziehen", meint dazu Hartmut Klenke, Produzent des ZDF-Talkshowschlachtschiffs "Maybrit Illner".
"Betrachten wir nur das Beispiel der Dokus: In Umfragen will das Publikum immer Dokumentationen sehen, doch in den Quoten schlägt sich dies nicht nieder. Natürlich könnte man mehr machen und ausprobieren, doch leider wird die alte Münze nur immer wieder neu umgedreht."
Auch der Medienforscher Hermann-Dieter Schröder vom renommierten Hans-Bredow-Institut in Hamburg steht Publikumsbefragungen eher skeptisch gegenüber, "da Menschen die Neigung besitzen, sozial erwünschte Antworten zu geben". Im Klartext: Die meisten Menschen, die den Mangel an qualitativ hochwertigen Programmen beklagen, zappen gnadenlos zum Bauern, der eine Frau sucht, zu Serien und eben zu den Talkshows. "Der springende Punkt ist", so Schröder, "dass sich in den Talkshows nur selten geeinigt wird. Doch gerade die unterschiedlichen Meinungen betrachtet der Zuschauer als Erweiterung seines Horizonts. Die Identifikation mit Gleich- und Andersdenkenden wird zum Erlebnis, denn der Zuschauer möchte eine klare Lagerkonstellation. Er will die Polarisierung, die ihm die politischen Magazine heute nicht mehr bieten." Also, Talkshows geben Orientierung und offenbaren die Streitkultur, die sogar im Parlament häufiger gebraucht würde.