Michel Friedman, 54, war bis 2003 stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland.
1. Hamburger Abendblatt:
Mit Dieter Graumann steht erstmals ein Präsident an der Spitze des Zentralrats der Juden, der den Holocaust selbst nicht erlebt hat. Verändert sich dadurch das Selbstverständnis des Verbandes?
Michel Friedman:
Die Worte eines Überlebenden haben zu Recht besonderes Gewicht. Aber der Wechsel an der Spitze ist noch nicht die zu erwartende Neugestaltung des Zentralrates, die widerspiegeln würde, dass die Mehrheit keine familiäre Holocaust-Erfahrung mehr hat. Dieter Graumann steht für einen Übergang. Den Neuanfang in den Machtstrukturen der Gemeinden und des Zentralrates muss er erst noch organisieren.
2. Damit spielen Sie auf die Veränderungen der Gemeinden durch den Zuzug aus Osteuropa an. Was ändert sich dadurch?
Friedman:
Die Einwanderung war qualitativ wie quantitativ ein Erfolg. Ob sich dies auch in der politischen Debatte widerspiegeln wird, sehen wir erst in zehn bis 20 Jahren, wenn der Wechsel in der Repräsentanz im Zentralrat stattfindet. Aber ich bin optimistisch, dass hier Gleiches geschehen kann wie in England oder Frankreich, dass es nicht nur jüdisches Leben, sondern lebendiges Judentum gibt mit erkennbaren Stimmen in Natur- und Geisteswissenschaften, in Politik und Journalismus.
3. Was erwarten Sie in Bezug auf dieses jüdische Leben vom neuen Zentralratsvorsitzenden?
Friedman:
Dass er sensibel, konstruktiv und auch mutig diesen pluralistischen Schatz hebt und ihn außerdem konsequent in unsere politischen Debatten befördert.
4. Sollte sich der Zentralrat in der Öffentlichkeit stärker vernehmbar zu Wort melden?
Friedman:
Ich bedaure zutiefst die Entpolitisierung des Zentralrates in den letzten Jahren. Leider wurde der Weg, den Ignaz Bubis und ich gegangen sind, nämlich den Zentralrat nicht nur in den Kernfragen in Erscheinung treten zu lassen, nicht fortgesetzt. Wenn der Zentralrat eine Rolle spielen will, muss er neben eigenen Interessen die makropolitischen Fragen in die Öffentlichkeit tragen, wie das Thema des Gentests bei Embryonen (PID). Dagegen intervenierten die christlichen Kirchen zu Recht. Wo blieb die jüdische Stimme?
5. Die scheidende Vorsitzende sieht in Deutschland einen "Hort des Friedens". Gilt das auch in Bezug auf Antisemitismus und Rechtsextremisten?
Friedman:
Unstreitig ist die Mehrheit in Deutschland für eine weltoffene Gesellschaft. Aber nach dem Buch von Sarrazin muss allen aufgefallen sein, dass es noch immer viel zu viele Rechtsextreme gibt, nicht nur mit Springerstiefeln, auch in eleganter Kleidung bei Champagnerempfängen. Hinzugekommen ist ein Antizionismus von rechts- und linksextremer Seite und einem Teil der islamischen Bevölkerung. Vom Paradies sind wir noch weit entfernt.