“Gorleben 21“ Wir wollen alle Vorteile eines modernen Staates, ohne den Preis dafür zu bezahlen. Doch der wird fällig, warnt Hamburgs Erster Bürgermeister
Die Amerikaner haben eine bewundernswerte Weise, elementare Erkenntnisse über widersprüchliche und komplexe Phänomene auf den Punkt zu bringen: im berühmten One-Liner. Ein One-Liner, der die politische Diskussion seit gut 30 Jahren bereichert, von Reagans Steuerpolitik bis zu Obamas Bekämpfung der aktuellen Wirtschaftskrise lautet: There is no such thing as a free lunch. Bedeutet: Es gibt in der Politik wie im Leben nichts, was wirklich umsonst ist - alles hat seinen Preis, und der wird früher oder später fällig. Alles andere ist Illusion. Was hat das mit der aktuellen Demokratiedebatte in Deutschland zu tun, mit dem vermeintlichen Wutbürger, der gegen Stuttgart 21 auf die Straße geht und den Castor blockiert?
Dahinter steht zweierlei: Der erste Punkt ist ein psychologischer und hat mit unserer deutschen Befindlichkeit zu tun, wie sie sich seit dem II. Weltkrieg entwickelt hat. Der zweite ist eher soziologischer Natur und hat weitreichende Folgen für die Funktionsfähigkeit unseres politischen Systems.
In den 50er-Jahren sahen die Deutschen sich mit dem Soziologen Helmut Schelsky als die skeptische Generation - die doppelte Katastrophe der Weltkriege steckte uns tief in den Knochen, die geopolitische Lage mit den unmittelbaren biografischen Erfahrungen der Menschen machte aus dem Deutschen Michel den Ohne-Michel, der sich am liebsten heraushielt. Man wollte Heimatfilme und Schnitzel, mit dem Wirtschaftswunder auch einen roten VW-Käfer und eine Reise nach Rimini, aber die große Weltpolitik war passé. Vier Jahrzehnte funktionierte das im Windschatten der USA und eingebettet in die sich entwickelnde EU ausgezeichnet. In weiten Teilen der Welt litten die Menschen immer noch unter Armut und Krieg, Hungersnöten und Wirtschaftskrisen. Aber wir waren eine Wohlstandsinsel. Wir nahmen eine Art kollektiven Urlaub von der dunklen Physik der Zeitgeschichte, entwickelten die alte Bundesrepublik zum Rundum-sorglos-Staat, und die Behaglichkeit wurde unsere Ideologie.
Mein Eindruck ist, dass uns diese Geisteshaltung bis heute stark prägt.
Wir sind der Ohne-Michel 2.0. Denn wir möchten alle Vorteile einer hochmodernen Industriemacht genießen, aber wir werden zaghaft und neuerdings quer durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten zunehmend aggressiv, wenn es darum geht, den Preis dafür zu entrichten. Mobilität ist toll - aber auf den Flughäfen sollen nicht so viele Flieger starten und landen. Wir wollen gesunde Bio-Produkte und Fleisch von frei laufenden Hühnern, aber ein Hähnchen darf nicht mehr als 1,99 Euro kosten. Wir wollen überall telefonieren und ins Internet, aber keine Funkantennen. Doch den Rundum-Sorglos-Wohlfühlstaat gibt es nicht. Vielleicht müssen wir uns damit langsam vertraut machen. Aber unter welchen Bedingungen? Selbst wenn man erkennt, dass alles seinen Preis hat, bleibt die Frage: Wer zahlt?
Und hier sind wir mitten in der politischen Soziologie. Alle Untersuchungen zeigen, dass die Bindekraft der großen Organisationen - Volksparteien, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände - seit Jahrzehnten dramatisch schwindet. Die Soziologen sprechen von der Individualisierung - wo früher stabile Gruppen waren, Milieus wie das klassische Arbeitermilieu, die Kirchengemeinde, die Familie sind heute Einzelne, die bestenfalls lose und vorübergehend verbunden sind. Jeder sein eigenes Universum, mit eigenen Wünschen, Ansprüchen, Prioritäten. Und zunehmend auch Egoismen.
Daraus ergeben sich zwei Schwierigkeiten für die Politik: Wie finden wir unter diesen Bedingungen einen Konsens bezüglich der Ziele? Und wie können wir die Lasten verteilen?
Schon bei Aristoteles war das der Knackpunkt. Er beschrieb die quasi naturgesetzhafte Gefahr, dass eine hoch entwickelte Demokratie in eine Anarchie umschlägt oder in eine Tyrannis.
Wenn man wie in Stuttgart sieht, dass in jahrelangen Planfeststellungsverfahren entwickelte demokratische Entscheidungen selbst dann keine Akzeptanz mehr finden, wenn sie gerichtlich überprüft und bestätigt sind, muss uns das nachdenklich machen.
Wenn die Eigeninteressen der heutigen Generationen die Zukunft und die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes gefährden, dann unterminiert das systematisch auch die Verpflichtung zur Langfristigkeit, der die Politik gerecht werden muss. Deshalb dürfen Staat und Politik weder der Versuchung erliegen, mutlos zu werden und den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, noch trotzig ihre rechtsstaatlich legitimierte Autorität durchsetzen. Nicht die Kritik an politischen Entscheidungen ist das Problem, die darf und muss sein. Es sind die Instrumente der Kritikäußerung, die zunehmend im Widerspruch zu den Spielregeln unserer Demokratie stehen. Ausgerechnet in einem Land, in dem sich der Bürger in die politische Entscheidungsfindung mehr einbringen kann als irgendwo sonst auf der Welt. Und in einem Land, das nicht zuletzt wegen dieses hohen Niveaus an Bürgerbeteiligung schon heute wegen überlanger Planungszeiten für große Projekte deutliche Wettbewerbsnachteile hat.
Insofern sind Stuttgart 21 und Gorleben Weckrufe: Es muss uns gelingen, die Schlüsselfragen der Legitimation von Entscheidungen und der politischen Autorität überzeugend zu erklären. Politik und Gesellschaft tun gut daran, dies sehr ernst zu nehmen. Es geht um nicht weniger als um unsere repräsentative Demokratie und den Rechtsstaat.