Stephan Grünewald, 49, ist Psychologe und leitet das Kölner Rheingold-Institut.
Hamburger Abendblatt:
1. Warum berührt die Rettung der Kumpel in Chile die ganze Welt?
Stephan Grünewald:
Durch die wundersame Rettung wird ein religiöser Mythos wiedererweckt: Wir sitzen in der Dunkelheit, wir wollen emporgehoben werden. Das wird durch die spektakuläre Bergung der Kumpel dramatisiert. Das ist ein Wiederauferstehungsmythos. Die verlorenen Söhne, die lebendig Begrabenen haben Hoffnung, dass sie zum Leben erweckt werden - und zwar dadurch, dass die Gemeinschaft sie liebt. Die Rettung ist übrigens das diametrale Gegenteil von Stuttgart 21: Da soll ein Bahnhof von der Erdoberfläche, dem Licht, in die Tiefe, die Dunkelheit, verlagert werden. Das wollen die Menschen nicht.
2. Sehen Sie Gründe dafür, warum das Thema gerade jetzt gut in unsere Zeit passt?
Grünewald:
Dieses Thema berührt uns spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre. Eigentlich haben viele Menschen das Gefühl: Wir sitzen in einem Schwarzen Loch. Daher repräsentieren die verschütteten Kumpel ein kollektives Sehnsuchtsgefühl.
3. Millionen Menschen interessieren sich für die Lebensläufe der 33 Bergleute. Warum?
Grünewald:
Minenarbeiter sind Menschen, die niemand kennt, die in den Augen vieler einen niederen Dienst verrichten. Ihre Rettung jetzt kommt einer Erhöhung gleich - jetzt kennt jeder ihre Geschichten. Das, was die Leute so rührt, hängt damit zusammen, dass sie das Gefühl haben, dass durch das Mitverfolgen, das Mitbeten, jeder seinen Beitrag zur Rettung leistet.
4. Welche Rolle spielen die Medien in dem Drama um die verschütteten Bergleute?
Grünewald:
Durch die Medien hat man das Gefühl, man ist live an der Rettung dabei. Doch die Rettung, die in alle Welt übertragen wird, ist mehr als eine Reality-Show - weil sie die Grundsehnsüchte der Menschen anspricht. Das ist vergleichbar mit dem Wunder von Bern 1954: Deutschland befand sich im Loch der Kriegsschuld, durch den Teamgeist der Fußball-Nationalmannschaft, der den WM-Sieg brachte, ist das Land ein Stück erlöst worden. An den Fernsehgeräten waren die Deutschen damals dabei. Hinzu kommt: Was man sonst in den Medien erlebt, ist häufig abstrakt, dieser Vorgang ist eindeutig.
5. Wie lange wird sich die Welt noch für die Bergleute interessieren?
Grünewald:
Das Thema wird in acht bis zehn Tagen durch sein, wenn die Kumpel über ihre Erlebnisse berichtet haben. In der wundersamen Rettung steigert und erschöpft sich dieses Drama. Und dann verfilmt es Hollywood.