Verfehlte Wohnungsbaupolitik, Mieter und Vermieter, deren Ansprüche gewachsen sind, angesagte Stadtteile. Wohnungssuche wird immer mehr zum Casting.
Die Wohnung im Rambatzweg wird zum ersten November frei. Es ist eine ruhige Seitenstraße in der Jarrestadt, gegenüber von Kampnagel in Winterhude, einem der beliebtesten Wohnviertel. Die Wohnung befindet sich im ersten Stock eines dunkelrot geklinkerten Mehrfamilienhauses aus den 1920er-Jahren. Sie misst 55,48 Quadratmeter, die sich auf zweieinhalb Zimmer, Küche, Bad und einen Balkon verteilen. Ein Quadratmeter Wohnung kostet zehn Euro kalt, die Warmmiete beträgt 659,80 Euro zuzüglich Heizung und Wasser. Haustierhaltung ist verboten, Studenten sind erlaubt: Ja, die Wohnung sei WG-geeignet, sagt die Maklerin (sie möchte nicht genannt werden), die die Wohnung im Auftrag einer Hausverwaltung (die ebenfalls nicht genannt werden möchte) vermittelt. Diese Dienstleistung kostet 2,38 Nettokaltmieten inklusive Mehrwertsteuer: Für 1320,42 Euro Umsatz hat die Maklerin die Wohnung fotografiert, als Anbieter-Objekt No. 2653 ins Internet gestellt, Telefonate mit Interessenten geführt, E-Mails gecheckt und schließlich den Besichtigungstermin angesetzt. Der ist heute, an einem frühherbstlichen Montag um 17.30 Uhr.
Die Maklerin hat 30 Blanko-Selbstauskunftsbögen dabei, die aber nicht reichen werden, da sich schon eine Viertelstunde vor dem offiziellen Termin mehr als 30 Interessenten im schmalen Treppenhaus drängen. Was für ein solch begehrtes Objekt wie diese Wohnung ungewöhnlich wenig ist. Für diejenigen, die sie nicht auf Strümpfen besichtigen wollen, legt die Maklerin zwei Paar blaue Plastik-OP-Schuhe zum Überstreifen auf die Fußmatte und schließt die Tür. Denn es ist ja erst 17.28 Uhr. Die meisten Interessenten geben sich betont gelassen. Einige signalisieren durch Blicke: Wir sitzen doch alle im selben Boot. Andere wiederum haben sich offenbar schon mal bei einer anderen Besichtigung getroffen. Sie nicken sich freundlich und wohlmeinend zu, doch in Wahrheit sind sie Konkurrenten.
Schlag 17.30 Uhr öffnet sich die Wohnungstür. Es ist nur ein Spalt, durch den der linke Unterarm der Maklerin die Kandidatin Nummer eins heranwinkt; eine junge Frau, vielleicht 18 Jahre alt. Sie wird von ihrer Mutter begleitet. Das soll wohl die Chancen erhöhen. Tochter und Mutter sind im Stile eines Elbvorortes gekleidet. Die Tochter fahre seit einem Jahr jeden Morgen eineinhalb Stunden zu ihrem Ausbildungsplatz und jeden Abend wieder zurück. So könne es nicht mehr weitergehen. Die beiden Frauen wirken angespannt. "Bitte", sagt die Maklerin, einen Hauch Ungeduld in der Stimme, und öffnet die Türe eine Handbreit mehr. Ihre Miene erinnert an eine Zahnarzthelferin, die einem verängstigten Patienten wortlos suggerieren will, dass eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung nicht wehtut.
Lisa Roth und Lena Staubach, beide 20 Jahre alt, streifen sich vier Minuten später die blauen OP-Schuhe über. Lisa mustert kurz die Mutter und ihre Tochter, die sich an der Warteschlange vorbei die Treppe herunterdrängen. Die Mutter sieht jetzt viel entspannter aus. Lisa und Lena befürchten das Schlimmste. "Als Student hast du eigentlich keine Chance", sagt Lisa, "wir hören immer wieder 'Nein, keine Studenten und keine WG!'." Deshalb setzen sie all ihre Hoffnungen in diese Wohnung im Rambatzweg, die groß genug ist, schön genug und bezahlbar. Und das in Winterhude!
Zurzeit übernachten Lisa und Lena noch bei Freunden "in der Schanze". Dort würden sie auch am liebsten wohnen, aber im Schanzenviertel würden die wenigen freien Wohnungen immer unter der Hand weggehen und auch die Mieten seien wegen der erhöhten Nachfrage enorm gestiegen. Sie könnten maximal 800 Euro ausgeben, warm. Lisa will Erziehungswissenschaften studieren, Lena Bekleidungstechnik. Die Standardunterlagen für wohnungssuchende junge Leute ohne festes Einkommen - Schufa-Auskunft und eine schriftliche Bürgschaftserklärung der Eltern - haben sie selbstverständlich dabei. Dies ist ihr 15. Besichtigungstermin. Allein im September.
"Wer seinen Suchradius erweitert", sagt Michael Sachs, "kann in Hamburg eine vernünftige Wohnung finden." Bis Ende Mai war der 63 Jahre alte Sachs Vorstandsmitglied des städtischen Wohnungsbauunternehmens Saga GWG, sozusagen Vermieter von 130 000 Wohnungen und rund 1500 Gewerbeobjekten. Seit gut 100 Tagen ist er Hamburgs Wohnungsbaukoordinator. Dieses Amt war im Jahre 2002 zugunsten privater Investoren abgeschafft worden, denen es die damalige CDU/FDP/Schill-Partei-Koalition zutraute, die immanente Wohnungsknappheit der "Mieterstadt" Hamburg zu lindern. Doch anstatt der versprochenen 5000 bis 6000 Wohnungen pro Jahr wurden seitdem durchschnittlich nur 3700 Einheiten gebaut, davon gut drei Viertel Einfamilien- und Reihenhäuser sowie Eigentumswohnungen und nur 600 bis 900 Mietgeschosswohnungen. Dafür wurden pompöse Bürobauten hochgezogen und - vor allem mit der Hafencity Süd und ihrer alles überstrahlenden Elbphilharmonie - architektonische Meilensteine geschaffen - Spielwiesen für Millionäre, Wohnraum für Führungskräfte.
Das wiederbelebte Amt des Wohnungsbaukoordinators ist der schwarz-grünen Landesregierung plötzlich wieder so wichtig, dass sie bei der Kandidatenkür nicht aufs Parteibuch, sondern einzig und allein auf die Qualifikation des Amtsinhabers geschielt hat. Ob der SPD-Genosse Michael Sachs nach den Lippenbekenntnissen des neuen Senats auch die nötigen Kompetenzen erhält, weiß niemand. In seiner ersten Regierungserklärung hat der Erste Bürgermeister Christoph Ahlhaus immerhin den Bau von 5000 bis 6000 Wohnungen pro Jahr zur Chefsache erklärt. Diese Zahl hat man vor gut acht Jahren schon einmal gehört.
Sachs' Büro in der zweiten Etage der Baubehörde ist so nüchtern wie die Architektur der Schlafstädte in Harburg, Wilhelmsburg, Kirchdorf-Süd, Horn, Osdorf, Jenfeld oder Eidelstedt. Aber wenn Sachs vom "erweiterten Suchradius" spricht, dann meint er eben diese Hamburger Stadtteile. Dort seien Wohnungen nicht nur vorhanden, sondern häufig auch größer, in passablem Zustand und vor allem bezahlbar. Und sie sorgen nebenbei dafür, dass Hamburgs Mieten immer noch viel günstiger seien als in München: Nach dem aktuellen "F&B Marktmieten-Index", der 550 der größten deutschen Städte beinhaltet, kostet ein Quadratmeter Kaltmiete in München im Gesamtdurchschnitt 11,15 Euro in Hamburg aber nur 8,10 Euro. "Allerdings sind die Ansprüche der Mieter enorm gestiegen. Eine Sub-Standard-Wohnung in Randlage ist heutzutage selbst an Geringverdienende kaum vermittelbar", sagt Sachs. Auch für Isabelle Kleine kommt nur Winterhude infrage, "besser noch Eppendorf!" Die 20 Jahre alte Politikstudentin und ihr vier Jahre älterer Freund Arne Dräger, Student der Physik, nehmen es für die richtige Adresse in Kauf, dass ihre Wohnungssuche länger dauern könnte. Isabelles roter Filzstift fliegt nur so über die Selbstauskunft. Die Personalausweisnummern hat sie auswendig drauf. Nach über 30 Besichtigungen wird das Ausfüllen zur Routine. "Uns ist neulich eine 125 Quadratmeter große Altbauwohnung in der Sierichstraße für 480 Euro kalt zugesichert worden, von Privat über die Immowelt-Suchmaschine. Sogar die Einrichtung hätten wir ohne Abstand übernehmen können", erzählt Arne. "Bloß für die Schlüsselübergabe sollten wir plötzlich 500 Euro als Anzahlung an eine Agentur überweisen - da war die Sache natürlich klar", fährt Isabelle fort. Ein paar Tage später warnte auch das Immowelt-Portal vor dieser Betrugsmasche.
"Die Annonce hatte ich auch gesehen", sagt einer aus der Warteschlange, "Kriminelle findste überall - aber die Makler zocken dich ganz legal ab. Ich kenn inzwischen welche, das sind Freunde, die pro forma dazwischengeschaltet werden, um ein bisschen Extrakohle zu machen." Makler, das finden die meisten, seien bei Objekten wie diesem hier sowieso überflüssig.
"Einerseits predigen wir Marktwirtschaft, andererseits muss ich zugeben, dass einige wenige unserer Mitglieder die vorherrschende Wohnungsknappheit in den attraktiven Stadtteilen doch sehr übertrieben ausnutzen", gibt Torsten Flomm, im Vorstand des Haus- und Grundeigentümerverbandes in Hamburg, unumwunden zu. Eben hat er am Telefon versucht, einem Vermieter begreiflich zu machen, dass der sich mit seiner Mietforderung von 12,75 Euro kalt pro Quadratmeter ganz knapp unter der justiziablen Wuchergrenze von 50 Prozent über dem ortsüblichen Mietenspiegel bewegen würde: "Und das für 45 Quadratmeter im vierten Stock eines Hauses aus dem Jahre 1894, einfachster Standard mit Fenstern nach hinten zum dunklen Innenhof raus, in dem Mülltonnen stehen - aber es ist eben Winterhude!"
Auch für Flomm ist die Wohnungsknappheit in Hamburg ein stadtteilbezogenes Phänomen, das jedoch kurz- bis mittelfristig abgemildert werden könnte, wenn die Kosten für Neu- und Ausbauten nicht so immens hoch wären. Der Grund hierfür seien ja vor allem die Umwelt-Bauvorschriften, die in Hamburg noch schärfer seien, als es das Energieeffizienzgesetz für den Bund vorschreibt. "Die Vermieter vom alten Schlag, die wollen vor allem Ruhe haben. Die greifen nicht alles ab, was geht. Aber wenn die jetzt Dachgeschosse so klimaschonend ausbauen würden wie vorgeschrieben, dann müssten sie ordentlich zuschlagen, damit die Rendite wenigstens einigermaßen stimmt."
Worauf Torsten Flomm außerdem wartet, ist die ebenfalls schon seit Jahren versprochene Bestandsaufnahme der möglichen Bebauungsflächen. "Die Städte von morgen sind schon da", weiß er, "aber niemand weiß derzeit genau, welche Gewerbebauten und -flächen sich für eine Umnutzung eignen."
Flomm wartet nicht alleine: Auch sein "Gegenspieler" Siegmund Chychla aus dem Vorstand des Mietervereins zu Hamburg e. V. fordert: "Bei der Flächenvergabe, den Förderprogrammen, der Planrechtsschaffung und dem Saga-Neubau muss der Wohnungsbaukoordinator auf eine Kurskorrektur drängen. Es muss geklotzt werden - pro Jahr müssen 8000 neue Wohnungen her!"
Michael Sachs weiß, was von ihm verlangt wird: "Schon in wenigen Jahren werden wir 80 Prozent des Wohnraums für Ein- bis Zwei-Personenhaushalte benötigen. Liegenschaften der Stadt dürfen daher zukünftig nicht mehr allein unter fiskalischen Gesichtspunkten verkauft werden, sondern müssen viel stärker zum Erreichen wohnungsbau- und sozialpolitischer Ziele eingesetzt werden."
Isabelle und Arne haben sich sofort in die Wohnung verguckt. Doch ihre Komplimente interessieren die jetzigen Mieter (die auch ihre Namen nicht nennen wollen) kaum. Die wissen ganz genau, dass sie ein Schnäppchen anzubieten haben. Sie achten nur darauf, dass niemand auf die Idee kommt, auf ihrem Klavier herumzuklimpern. Offenbar ist die Hausgemeinschaft lärmresistent. Noch ein Pluspunkt.
"Ich seh schon, Sie denken, wir sind noch ziemlich jung zum Zusammenziehen", sagt Isabelle strahlend, als sie der Maklerin die Selbstauskunft in die Hand drückt, "aber, wissen Sie, mein Freund und ich sind schon viele Jahre zusammen und wir haben echt nicht vor, uns zu streiten und sofort wieder auszuziehen."
Die Maklerin schaut etwas irritiert auf den Zettel. "Ah ja", meint sie dann versöhnlich, "ich seh schon: Rote Schrift gleich große Liebe!"
"Also, ich glaube, wir würden hier wirklich gerne einziehen", bemerkt Arne. "Sicher", entgegnet die Maklerin kühl, und schon ist es wieder Zeit für den nächsten Durchlauf.
Ein Wohnungsbaukoordinator sitzt ganz automatisch zwischen vielen Stühlen. Er sollte diplomatisch sein, doch manchmal kann sich Michael Sachs nicht zurückhalten. Vor allem, wenn es um den Irrsinn geht, den er abschaffen will. Irrsinn - dieses Wort benutzt er häufig. Er hat stets einen Packen Zeitungsausschnitte, Gutachten und Bescheide dabei. Lauter Irrsinn, wie der Bescheid, der zum Beispiel den Bau von zwölf neuen Wohnungen in einem hufeisenförmigen Barmbeker Wohnblock verhindert, da durch die Schließung der Baulücke die Tierwelt im Innenhof, die sich im Wesentlichen aus Wildkaninchen, Reptilien und anderen Kleinsäugern zusammensetzt - gefährdet würde. "Der Gutachter befürchtet wohl Inzest unter den Karnickeln", sagt Sachs pikiert, "also werden zugunsten des Wildwechels nur sechs neue Wohnungen gebaut."
Zwei Tage nach der Besichtigung ruft die Maklerin an. Isabelle und Arne könnten die Wohnung im Rambatzweg haben. Ihr Auftreten sowie der Beruf der Eltern und deren Bürgschaftszusage hätten die Verwaltung überzeugt. "Und dann war da ja auch noch Ihre Selbstauskunft", fügt die Maklerin hinzu, "rote Schrift gleich große Liebe - das habe ich mir doch gleich merken können!"
Offenbar hat der Maklerberuf also doch noch eine Existenzberechtigung.