Der frühere Botschafter Israels in Deutschland beschreibt das Desinteresse seiner Landsleute an den Beziehungen zu den USA und die Zweifel am Friedensprozess
::Kürzlich hielt sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu einem "äußerst wichtigen" Besuch bei dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama in Washington auf. Vor mehr als einem Jahr war es zu anhaltenden und für Israel gefährlichen Unstimmigkeiten zwischen Netanjahu und Obama gekommen. Nun schien eine Wende in den Beziehungen zwischen den beiden nicht nur für Netanjahu dringend geworden zu sein. Im November finden die US-Kongresswahlen statt und die Verstimmung mit Israel ist für die Partei Obamas vor allem wegen des Drucks der amerikanischen Evangelisten zu einem Problem geworden. Und tatsächlich haben sich die beiden Regierungschefs äußerst konziliant gezeigt. Zwar gab es nur ein Gespräch unter vier Augen, von dem nichts bekannt wurde. Aber dass es in der Atmosphäre zwischen den beiden einen echten Umschwung gab, war deutlich sichtbar. Ob diese Wende auch eine neue Politik des einen oder des anderen bedeutet, ob sie bleibend oder nur flüchtig ist, das waren die großen Fragen, die die Medien vor allem in Israel tagelang fast ausschließlich beschäftigt haben.
Die israelische Bevölkerung aber hat sich Meinungsumfragen zufolge nur oberflächlich dafür interessiert. Was ihre leidenschaftliche Aufmerksamkeit beansprucht hat, war ein ganz anderes Ereignis, das Schicksal des israelischen Soldaten Gilad Schalit, der seit vier Jahren an unbekanntem Ort im Gazastreifen von der Hamas in Gefangenschaft gehalten wird. Von seiner Familie darf er weder Briefe geschweige denn Besuche empfangen und auch Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes erhalten keinen Zutritt zu ihm. Seine Lebensbedingungen sind ungewiss.
Die Familie des Soldaten hat einen knapp zweiwöchigen Protestmarsch initiiert, der von ihrem Heimatdorf im Norden Israels bis nach Jerusalem führte. Es waren mehr als 100 000 Menschen, von denen sie auf den verschiedenen Etappen des Marsches begleitet wurden. Noch zahlreicher waren die Teilnehmer an den Kundgebungen entlang des Weges.
Der Marsch wurde von der gesamten Bevölkerung sehr emotional verfolgt. Diese Tatsache überzeugte selbst sämtliche rechten und ultraorthodoxen Politiker, die eigentlich eine Vereinbarung mit der Hamas zugunsten der Befreiung des gefangenen Soldaten ablehnen, dass es von Vorteil wäre, sich auch dem Marsch anzuschließen. Gilad Schalit ist ein sehr wichtiges und mit Emotionen beladenes Thema. Nichts aber ist so schwerwiegend und lebenswichtig für Israel wie die Beziehungen mit Amerika, die auch die Gefahren und Chancen für Krieg und Frieden in sich einschließen. Da geht es nicht nur um den Lebensstandard der Israelis, sondern um die Überlebensfähigkeit des Staates. Woher rührt also die Gleichgültigkeit der Israelis diesem Thema gegenüber?
Auf der einen Seite ist die Mehrheit der Israelis von der Wichtigkeit und Dringlichkeit eines echten Friedensprozesses überzeugt. Zwei Drittel der Bevölkerung sind dafür und befürworten die Räumung der besetzten Gebiete und der Siedlungen. Auf der anderen Seite glauben dieselben Israelis nicht an die reale Möglichkeit eines echten Friedensprozesses. Dieser sei wünschenswert, sagen sie, aber nicht realisierbar.
Sie glauben nicht, dass die heutige israelische Koalition einen solchen Friedensprozess anstrebt oder dass der amerikanische Präsident sich ernsthaft einmischen wird. Und vor allem glauben sie nicht, dass die palästinensische Regierung in Ramallah über die Mittel verfügt, den Israelis im Rahmen eines Friedensvertrags Sicherheit garantieren zu können, wie es Präsident Sadat von Ägypten und König Hussein von Jordanien getan haben. Sie fürchten, dass es nach dem Ende der Besatzung im Westjordanland zu einer Situation kommen könnte, wie sie sich im Gazastreifen nach dessen Räumung im Jahr 2005 entwickelt hat. Und solange man den Israelis keine glaubwürdige Antwort auf ihre Sicherheitssorgen gibt - und die kann unter Umständen nur von der internationalen Gemeinschaft kommen -, wird es keinen Friedensprozess und seitens der Israelis auch kein Interesse dafür geben.
Aktuelle Buchtitel des Autors: Avi Primor, Christiane von Korff, "An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld", Piper Verlag, 19,95 Euro; Avi Primor, "Frieden in Nahost ist möglich - Deutschland muss Obama stärken, edition Körber-Stiftung, Hamburg, 10 Euro