Mit 60 ist sie noch ein Jungspund, mit 90 Pfund sehr leicht und im Vergleich zu ihren Artgenossen blitzschnell.
Hamburg. Steht eine Riesenschildkröte am Zaun und wartet auf den Bus ... Sie verstehen den Witz nicht? Uwe Fischer (46) musste laut lachen. Vor Kurzem, als Riesenschildkröte Romina es wieder einmal geschafft hatte, aus ihrem Gehege in Hagenbecks Tierpark zu entkommen, bis der Zaun an der Lokstedter Grenzstraße ihre Flucht stoppte. Direkt vor der Bushaltestelle. "Romina ist unsere Ausbrecherkönigin", sagt ihr Tierpfleger. Wer hätte das von dem urzeitlich anmutenden Reptil gedacht?
60 Jahre alt, 45 Kilogramm schwer - in einer Kontaktanzeige für Riesenschildkröten fiele das unter die Rubrik "jugendliches Leichtgewicht". Rominas Artgenosse Leopold bringt immerhin 180 Kilogramm auf die Waage und feiert nächstes Jahr seinen 100. Geburtstag in Hamburg. Und da geht noch mehr: "Die älteste, wissenschaftlich dokumentierte Riesenschildkröte soll 178 Jahre alt sein", sagt Uwe Fischer.
Auch Hannibal, Gina, Cassiopeia und Hermine - die weiteren Mitglieder der hagenbeckschen Panzerträger-Gang - sind alle deutlich schwerer und älter als Romina. Tierparkintern trägt sie bei den Pflegern daher auch den Namen "Sport-Schildkröte". "Sie joggt fast den ganzen Tag durchs Gehege", erklärt Fischer, und das meint er durchaus ernst. Diese Eigenschaft unterscheidet Romina von ihren Artgenossen, die sich eher im aktiven Stillstand üben, sodass man sie glatt für Exemplare der denkmalgeschützten Dinosaurier-Plastiken halten könnte, mit denen sie sich das Gehege teilen. Fast könnte man Romina als Hektikerin bezeichnen.
Uwe Fischer weiß, warum es sich seine Schützlinge leisten können, langsam zu sein: "So ein Grashalm ist nicht wirklich ein Fluchttier", sagt er und lacht. In ihrer Heimat, einigen Inseln des Indischen Ozeans, ernähren sich die Seychellen-Riesenschildkröten überwiegend von Kräutern und Gräsern. Sie leben jedoch nicht streng vegetarisch: Auch Aas verschmähen die Kolosse durchaus nicht. Sehr speziell ist ihre Art der Wasseraufnahme: Da Süßwasser in ihrem ursprünglichen Lebensraum häufig nur in winzigen Gesteinsritzen zu finden ist, können die Schildkröten auch durch die Nasenlöcher trinken.
Bei Hagenbeck kennt man die weiteren Vorlieben der weltgrößten Landschildkröten. "Sie lieben rotes Gemüse wie Paprika, Möhren und Tomaten", sagt Fischer. "Außerdem halten sie sich im Sommer gerne in ihrem BeachClub am Teich auf, wo sie bis zu 50 Zentimeter tief ins Wasser gehen können." Deshalb werden die Reptilien von den Pflegern auch regelmäßig mit warmem Wasser gewaschen und abgebürstet. Fischer: "So kriegen wir den hässlichen Spülsaum vom Panzer." Körperpflege lieben alle sechs, doch Romina besonders: "Sie stellt sich zum Kraulen richtig in Position, streckt den Hals, so lang es geht", verrät ihr Pfleger. In der Natur übernehmen Finken das Absammeln von Parasiten.
Den Winter verbringen die Wärme liebenden, streng geschützten Tiere in einem umgebauten Gewächshaus. Sonnenstrahler mit 20 000 Watt sorgen für extrem helles Licht - "immerhin kommen die Riesenschildkröten ja vom Äquator", erklärt Fischer.
Geht es im Frühjahr wieder raus auf die Saurierwiese, legen sich Leopold und Hannibal bei den Damen ordentlich ins Zeug - und den Paarungsakt kann man nicht gerade als leise und zurückhaltend bezeichnen. Das Resultat: Dieses Jahr lagen plötzlich erstmals zwei Eier im Sand des Gewächshauses vergraben. Im Brutkasten schlummern die beiden rauen, hartschaligen Eier nun 200 Tage, und vielleicht schlüpft daraus Ende des Jahres der erste Nachwuchs der urtümlichen Tiere bei Hagenbeck. Ob Romina die Mutter sein könnte? Sicher, wenn sie nicht zu schnell vor den Männchen davongelaufen ist ...
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