Die Rote Kapelle gilt als die bunteste, aber von Historikern am meisten verkannte Widerstandsgruppe gegen das Nazi-Regime.
Das Fotoalbum, das die Gestapo im September 1942 zusammenstellte, ist ein gespenstisches Dokument. Die abgebildeten Frauen wirken tief deprimiert, ihre Augen sind zum Teil verweint. Einige Gesichter der Männer zeigen Spuren von Misshandlungen. Mehr als 120 Personen sollten zu der Gruppe gehört haben, die Hitlers Geheime Staatspolizei als außergewöhnlichen Fall von Hochverrat und Spionage vorführte: der Roten Kapelle.
Es waren Sekretärinnen, Wissenschaftlerinnen, Hausfrauen, Tänzerinnen, Dreher, Bildhauer, Dramaturgen, Psychoanalytiker, Soldaten, Christen, Marxisten, Sozialdemokraten, Unpolitische. Seit 1935 hatten sie Widerstand geleistet. Mit dem Fotoalbum wollte die Gestapo die Verhafteten zwingen, Freunde zu identifizieren, aber auch die eigene Tüchtigkeit demonstrieren. Dennoch war die NS-Führung schockiert. Denn das waren aus ihrer Sicht "nicht die üblichen Querulanten aus der kommunistischen Szene, keine unzufriedenen Arbeiter, sondern Mitglieder der Elite", schreibt die amerikanische Politikwissenschaftlerin Anne Nelson in ihrem Buch "Die Rote Kapelle".
"Gerade die völlig verschiedenen Persönlichkeiten haben mich gereizt", sagt Nelson, 55. Auf knapp 510 Seiten hat sie eine beeindruckende Faktenfülle über etwa ein Dutzend der führenden Köpfe zusammengetragen. Hinter dem Namen Rote Kapelle - rot wegen der Verbindungen zur Sowjetunion, Kapelle wurde in der Geheimdienstsprache eine Gruppe von Tastfunkern ("Pianisten") genannt - verbirgt sich die wohl bunteste und ungewöhnlichste, aber auch am meisten verkannte Widerstandsgruppe der NS-Zeit.
1935 hatte sich ein loses Netzwerk von Freunden und Bekannten gebildet, die sich nicht gleichschalten lassen wollten: etwa der penible Beamte Arvid Harnack aus dem Wirtschaftsministerium und seine Frau Mildred, Literaturwissenschaftlerin; der Pilot und Luftwaffenoffizier Harro Schulze-Boysen, der gern reiste und das Risiko liebte, und seine Frau Libertas, die bei der Filmgesellschaft MGM als Presseagentin arbeitete; der Dramaturg Adam Kuckhoff und seine couragierte Frau Greta, eine Volkswirtin; das KPD-nahe Ehepaar Hans und Hilde Coppi; der Arbeiter John Sieg; der konservative Pianist Helmut Roloff; der Sozialdemokrat Adolf Grimme; die erst 20 Jahre alte Keramikerin Cato Bontjes van Beek; die Schauspielerin Marta Wolters.
Sie verhalfen jüdischen Freunden zur Flucht, versteckten Flüchtlinge, druckten und verteilten Flugblätter gegen das Regime; sie sammelten Fotos von Frontsoldaten, die bewiesen, dass an Zivilisten Kriegsverbrechen verübt wurden. Viele hatten Auslandserfahrung oder enge Kontakte zu ausländischen Freunden, sprachen mehrere Sprachen. Was sie verband, war für die Nazis schwer zu verstehen. Wahrscheinlich war es vor allem dies: die Fähigkeit, hinter der völkischen Propaganda eine unerträgliche Weltverengung zu erkennen.
Der Politologin Anne Nelson waren in einer Widerstands-Ausstellung in Berlin zwei Namen aufgefallen: Mildred Harnack, die einzige US-Amerikanerin, die von den Nazis hingerichtet wurde, und Greta Kuckhoff, eine der wenigen Überlebenden der Roten Kapelle, die 1981 in der DDR starb. Sie hatten sich beim Studium in den USA kennengelernt. Fast die Hälfte der Mitglieder der Roten Kapelle waren Frauen.
"Sie haben nicht hinter den Männern zurückgestanden", sagt Nelson. "Ich war erstaunt, dass Greta Kuckhoff ,Mein Kampf' ins Englische übersetzt hat. Sie wollte, dass man im Ausland auch die Originalversion las mit all den antisemitischen Passagen. Das war kein sexy Job, es muss ihr sehr schwer gefallen sein. Es war auch außergewöhnlich, wie viel die Frauen der Roten Kapelle für jüdische Freunde getan haben. Sie haben Papiere, Devisen, Essensmarken, Übersetzungen besorgt, haben bei Behörden angestanden. Das war nichts Glamouröses, aber für Menschen, die aus dem Land verschwinden mussten, war das existenzielle Hilfe."
Der Freundeskreis traf sich auf Partys oder zu Segelregatten auf dem Wannsee, um Informationen auszutauschen und Aktionen zu planen. Mildred Harnack war Vorsitzende des Frauen-Clubs an der Berliner US-Botschaft und baute mit Greta Kuckhoff einen Diskussionszirkel auf. Über verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen gab es Kontakte zu den Bonhoeffers, zu späteren Verschwörern des 20. Juli 1944, zur Weißen Rose und zu anderen Widerständlern. Aber das alles ging in der Nachkriegsgeschichtsschreibung der 60er- und 70er-Jahre unter. Anders als die "akzeptierten" Gruppen wie die Weiße Rose oder die Bewegung des 20. Juli war die Rote Kapelle ein Synonym für Landesverrat.
Arvid Harnack hatte von 1935 bis 1937 wirtschaftspolitische Informationen an sowjetische Diplomaten in Berlin weitergegeben. "Ebenso aber auch an andere Widerstandszirkel", sagt Hans Coppi, der bekannteste deutsche Rote-Kapelle-Experte. Nach 1937 ließ Stalin die meisten Diplomaten aus Berlin abziehen. Erst 1941 nahm ein russischer Agent wieder Kontakt zu Harnack und Schulze-Boysen auf. Sie warnten vor dem drohenden deutschen Angriff.
Gleichzeitig standen die Harnacks in engem Kontakt mit dem US-Botschaftssekretär Donald Heath. 1939 verfassten sie ein geheimes Memorandum für das US-Außenministerium, mussten aber bei einer USA-Reise feststellen, dass die Amerikaner Hitlers Expansionsdrang nicht ernst nahmen. "Harnack sah sich als Informant", sagt Nelson. "Er und Schulze-Boysen wollten erreichen, dass Hitlers Gegner besser informiert waren. Das Tragische ist, dass niemand interessiert war."
Auch Stalin nicht. Als ihm am 17. Juni 1941 die alarmierende Nachricht aus Berlin vorgelegt wurde, dass Deutschland trotz des Nichtangriffspakts vor einem Einmarsch in die Sowjetunion stand, fuhr er seinen Geheimdienstler an: "Schicken Sie Ihren Informanten aus dem Stab der deutschen Luftwaffe zu seiner Hurenmutter zurück. Das ist kein Informant, sondern ein Desinformator." Gemeint war der Leutnant Harro Schulze-Boysen. Fünf Tage später, am 22. Juni, startete das Deutsche Reich das Unternehmen "Barbarossa", den Krieg gegen die Sowjetunion.
Dennoch reduzierten westdeutsche Historiker die gesamte Rote Kapelle nur auf die Moskau-Verbindungen. Erst nach heftigen Kontroversen wurde die Rote Kapelle 1987 in die Ständige Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin aufgenommen, erzählt Hans Coppi, der als Sohn von Hilde und Hans Coppi kurz vor der Hinrichtung seiner Eltern im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße zur Welt kam. "Ein Spion macht nicht durch Flugblätter auf sich aufmerksam. Ein Spion, der für Moskau arbeitet, schert sich nicht um andere Deutsche", sagt Anne Nelson. "Wenn die Leute von der Roten Kapelle versuchen wollten, Spione zu sein, waren sie sehr unprofessionell. Sie haben alle Regeln gebrochen."
Während in der Bundesrepublik die Mitglieder der Roten Kapelle als Landesverräter galten, machte die DDR sie zu Helden - aber nur reduziert: Die Hilfe, die sie Flüchtlingen und Juden geleistet hatten, wurde unterschlagen. Das musste vor allem Greta Kuckhoff erkennen, die mit einer Zuchthausstrafe davongekommen war. Sie wurde nach 1945 in der DDR als Antifaschistin gefeiert und stieg sogar zur Präsidentin der DDR-Notenbank auf. Aber als sie Anfang der 70er-Jahre ihre Biografie "Vom Rosenkreuz zur Roten Kapelle" veröffentlichen wollte, verlangten die Zensoren Änderungen im Manuskript.
Anne Nelson entdeckte den Schriftwechsel im Archiv der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. "In ihrem Buch schrieb sie viel über die Judenverfolgung und warum es so wichtig war, jüdische Freunde zu unterstützen", sagt Nelson. "Aber der Herausgeber schrieb ihr: 'Das war kein Rassenkampf, sondern ein Klassenkampf. Es wurden keine Juden verfolgt, sondern Proletarier.'" Der DDR war nur daran gelegen, die Rote Kapelle als Beleg für die erfolgreiche Volksfront-Politik der Sowjetunion vorzuführen.
Erst seit der allmählichen Öffnung sowjetischer Archive konnten Historiker das Bild zurechtrücken: Die Kontakte der Roten Kapelle zu Moskau waren und blieben sporadisch, selbst als die Sowjets verzweifelt bemüht waren, den Widerstandskreis in ihr westeuropäisches Funknetz einzubauen. Tragischerweise war es gerade ein sowjetischer Funkspruch mit den Namen von Harnack, Schulze-Boysen und Adam Kuckhoff, den die Nazis entschlüsselten und der die Gruppe auffliegen ließ.
"Der Kalte Krieg hat alles simplifiziert: Amerika ist gut, die Sowjetunion ist böse", sagt Anne Nelson. "Aber diese Geschichte ist komplizierter." Zum einen zeigt Nelson, wie kosmopolitisch die Rote Kapelle war. Und sie verdeutlicht, warum die amerikanische Politik und die US-Geheimdienste an den Informationen der Roten Kapelle so wenig Interesse hatten: Hitler fand in den USA - ebenso wie in Großbritannien - vor dem Krieg durchaus Bewunderer.
Der Bostoner Geschäftsmann und Politiker Joseph Kennedy zum Beispiel, Vater des späteren Präsidenten John F. Kennedy, schickte 1934 seinen ältesten Sohn Joe junior nach Deutschland, um ein genaueres Bild von den Nazis zu bekommen. Der 19-Jährige ging der Nazi-Propaganda voll auf den Leim. Hitler habe das deutsche Volk aus einer tiefen Hoffnungslosigkeit herausgeholt, berichtete Joe Jr.: "Das war erstklassige Psychologie, und es war einfach Pech für die Juden, dass man ihnen diese Rolle zuschieben musste. Die Ablehnung der Juden war jedoch wohlbegründet. Sie saßen in den führenden Positionen der Industrie, des Justizwesens usw. ... aber ihre Methoden sind ausgesprochen skrupellos gewesen ... Was die Brutalität (der Nazis gegen die Juden) betrifft, so mag sie sogar in einem gewissen Rahmen notwendig gewesen sein."
Mildred Harnack, die eine schwärmerische Studentin und Dozentin gewesen war, starb im Februar 1943 unter der Guillotine. Ihre letzten Worte sind überliefert: "Und ich habe Deutschland so geliebt." Hilde Coppi wurde "wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Feindbegünstigung, Spionage und Rundfunkverbrechen" verurteilt.
Ihr Sohn Hans fand im Bundesarchiv Lichterfelde eine alte Karteikarte: "Hilde Coppi, Hochverrat und Landesverrat, Schulze-Boysen-Kreis, zart, fein, tapfer, ganz selbstlos. Gebar am 27.11.42 ihr Kind. Hinrichtung ihres Mannes durfte ihr nicht mitgeteilt werden, ließ darum ihren Schmerz nicht laut werden. Kind wurde von ihrer Mutter erst in der Woche der Hinrichtung geholt."
Hitler nahm auf den Rote-Kapelle-Prozess immer wieder direkten Einfluss, sagt Coppi. "Er ordnete für die vier Hauptbeschuldigten des ersten Prozesses im Dezember 1942 den Tod durch Erhängen an und hob die gegen Mildred Harnack und Erika von Brockdorff ausgesprochene Haftstrafe auf. Worauf sie in einem erneuten Prozess zum Tode verurteilt wurden."
Der Dramatiker Günther Weisenborn kam mit Festungshaft davon. Nach dem Krieg besuchte er noch einmal die Arrestzelle im Gestapo-Hauptquartier, in der Harro Schulze-Boysen gesessen hatte. Zwischen den Bodendielen fand er einen versteckten Zettel, auf den der Freund geschrieben hatte:
"Die letzten Argumente / sind Strang und Fallbeil nicht, / und unsere heutgen Richter / noch nicht das Weltgericht."
Anne Nelson: Die Rote Kapelle. Die Geschichte der legendären Widerstandsgruppe. C. Bertelsmann, 507 Seiten, 24,95 Euro