Sommelier Remigio Poletto über seine große Liebe und Leidenschaft. Und wie er auf den Geschmack gekommen ist, Genuss zu verkaufen.
Hamburg. Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Den Anfang machte Altbürgermeister Henning Voscherau. Folge 36: Remigio Poletto. Er bekam den roten Faden von Silvia Azzoni, Solistin des Hamburg Balletts.
Remigio Poletto - schon dieser klangvolle Name verheißt: Mehr Italien geht nicht! Sicher ein lauter, wild gestikulierender Heißsporn, den nicht jede Frau zu zügeln vermag. Soweit das exemplarische Klischee im Kopf. Doch dann erscheint ein zurückgenommen wirkender Mann mit einem Jack Russell an der Leine. "Ciao, ich bin Remigio." Ein hanseatisierter Poletto?
Vielleicht ein bisschen. Schließlich lebt der 50-Jährige bereits seit 1994 in Hamburg. Hier fühlt er sich wohl und angekommen, sagt Poletto mit dem charmanten Akzent desjenigen, der seine Herkunft keinesfalls verbergen will. Rasch bittet er die Bedienung um einen Espresso, während er einen hohen Holzhocker am Fenster seiner Winebar im Eppendorfer Weg 287 erklimmt.
Der Ton ist dabei freundschaftlich, das Klima familiär. So wollen es Poletto und sein Kompagnon Luigi Francia. Im Oktober 2009 eröffneten die beiden Freunde und Weinexperten ihre Bar - und erfüllten sich damit einen Lebenstraum. Schnell etablierte sich diese Gastronomie zum Treff für Eppendorfer Weinfreunde, die hundert Plätze im Inneren des ehemaligen Maybach sind am Abend gut besetzt. 400 verschiedene Weinsorten haben sie im Angebot, vom Mosel-Riesling über Chardonnay, Barolo, Brunello und Bordeaux. Zwei Drittel sind Rotweine, der Rest ist Weißwein. 90 Prozent davon kommen aus Italien, ihrer beider Heimatland.
Remigio Poletto verließ Aviano, eine Kleinstadt in Norditalien, "die leider wegen der Air Base der US-Luftwaffe bekannt geworden ist", gemeinsam mit seiner Mutter bereits im Alter von zehn Jahren. Sein Vater war verstorben, sie zogen nach Frankreich in die Südchampagne um, wo die Familie seiner Mutter lebte. "In der Stadt Orange hat mein Onkel in der Winzergenossenschaft gearbeitet, deshalb war es naheliegend, dass ich dort nach der Schule eine Ausbildung machen konnte", sagt Poletto.
Hier lernt er die Fähigkeiten eines Kellermeisters und Weinmachers, "aber ohne Studium", betont er. Er habe Geld verdienen wollen, die Schulbank hätte es ihm weniger angetan. Dann entstand die Liebe des Italieners zum Wein also als Jugendlicher in Frankreich? "Nein", sagt Poletto. Viel später erst sei er auf den Geschmack gekommen, ein Hamburger habe ihn übrigens geleitet. "Ich erzähle gleich", sagt er und spricht weiter von seinem Werdegang.
Denn bevor er den Weg in seine Wahlheimat Hamburg findet, ziehen ihn familiär-freundschaftliche Bande nach London. Hier hatte der beste Freund seines verstorbenen Vaters enge Kontakte zum berühmten Savoy-Hotel, einem Luxushaus in der britischen Hauptstadt.
Poletto kann dort Anfang der 80er- Jahre beginnen, als Weinkellner zu arbeiten. Er empfindet die Größe der Stadt, das fremde Land, die ungewohnte Sprache nicht als bedrohlich, vielmehr wird der Durst des jungen Erwachsenen nach neuen Eindrücken und Entwicklung gestillt. "Als junger Mensch in London zu leben war wunderbar, es ist eine große, pulsierende Stadt, sehr kosmopolitisch", sagt Poletto und hebt den zwölfjährigen Terrier Rosi auf seinen Schoß, krault dessen Kopf. Viele Jahre bleibt er in England, lernt die Sprache, arbeitet in unterschiedlichen Restaurants, darunter bei dem angesagten Italiener San Lorenzo.
Es folgt ein zweijähriger Abstecher nach Umbrien, wo er als Sommelier für einen Starkoch die Weine auswählt. "Und dann Hamburg!" Poletto lacht. Lässt den Kopf in den Nacken fallen, sodass seine hellgrauen Locken wackeln. 1994 fängt er im Restaurant Rive am Fischereihafen an, wird hier durch sein Weinfachwissen bekannt, beliebt - und Geschäftsführer.
Doch Poletto sucht wieder nach etwas Neuem, nach Veränderung. Fünf Jahre später verlässt er das Rive. Was folgt, ist ein beruflicher Schritt, der sein Leben verändern wird. Im ehemaligen Hamburger Sternerestaurant Anna e Sebastiano traf er "an der Kaffeemaschine" Cornelia Diedrich. Eine junge, talentierte Frau, die unter Spitzenköchin Anna Sgroi rasch zur Souschefin aufsteigt und Poletto nicht nur mit ihren Kochkünsten beeindruckt. "Sie war die neue Köchin bei meinem Freund Sebastiano, ich habe mich dort in sie verliebt", sagt Poletto. Und sein Lächeln wird in Erinnerung an diese Zeit noch etwas breiter. Glücklich sieht er aus.
"Nun ja, ich bin Italiener, ich habe sie angesprochen, mit ihr geflirtet, und wir wurden nach einiger Zeit ein Paar." Im Jahr 2000 heirateten die beiden "ganz spontan und sehr schön" im Landhaus Flottbek, wie Poletto sagt. Sie nimmt seinen italienischen Nachnamen an, mit dem sie bekannt wird. Gleichzeitig eröffnen sie ihr Restaurant "Poletto", das zum Sternerestaurant reift.
"Aber das war nicht immer so, wir hatten auch finanzielle Probleme und mussten viel kämpfen", sagt er. "Es war eine sehr hohe Konzentration gefragt, Stress gab es oft - jeden Abend fünf bis sieben Gänge pro Gast, 500 Essen in drei Stunden, das ist viel", sagt er. Polettos Aufgaben damals lagen klar außerhalb der Küche, er war Mitgeschäftsführer, kümmerte sich um die Gäste und natürlich den Wein. Cornelia Poletto, die "eine unglaubliche Begabung beim Kochen hat", regierte die Küche. 2002 wurde die gemeinsame Tochter Paola geboren, das Glück war perfekt. So schien es.
"2008 haben wir uns getrennt", sagt Poletto unvermittelt und streicht über sein weißes, eng anliegendes Hemd und richtet den Saum seiner dunkelblauen Strickjacke. "Unsere Liebe hat uns verlassen." Er wirkt immer noch betrübt darüber, dass sie es nicht geschafft haben. "Wir waren 24 Stunden zusammen und haben funktioniert", sagt er, "als Team." Nicht mehr als Liebespaar.
Kurze Zeit versuchten sie als Kollegen gemeinsam weiter ihr Poletto zu führen, doch es ging nicht. "Da waren immer viele Gefühle, ich bin eben Italiener und doch sehr emotional", sagt er und bekräftigt dies, indem er seinen Rücken aufrichtet und mit großen Gesten seiner Arme das Gesagte unterstreicht. "Ich wäre ja dauernd eifersüchtig gewesen. Es funktionierte von meiner Seite aus nicht. Deshalb bin ich ausgeschert", sagt er. "Die Seele des Restaurants war sowieso sie."
Poletto wirkt, als habe er die damaligen Umstände akzeptiert, viel darüber und sich selbst nachgedacht. Ob er der Zeit hinterhertrauere? "Nein. Nicht mehr. Das ist vorbei. Aber es waren eben zehn Jahre meines Lebens", begründet Poletto. "Und unsere Tochter wird uns immer verbinden." Die Zehnjährige lebt überwiegend bei ihrer Mutter und wohnt in Eppendorf - unweit von Papas Winebar und Mama Cornelia Polettos neuem Restaurant und Delikatessengeschäft Gastronomia. Wegen des Kindes und des Hundes Rosi gäbe es zwangsläufig viele geplante Berührungspunkte, ebenso, wie man sich zufällig im Stadtteil über den Weg laufe. "Zum Glück!", findet Poletto.
Mittlerweile hat eine andere Frau sein Herz erobert, Lebensgefährtin Julia. "Sie kommt auch aus der Weinwelt, ich kenne sie über meinen guten Freund, den Sommelier Hendrik Thoma. Mit ihm hat sie im Hotel Louis C. Jacob gearbeitet", sagt Poletto. "Sie ist eine sehr süße, junge Frau."
Gemeinsam mit ihr hat er eine zweijährige Tochter. Und sie teilen die Leidenschaft zu bestem Wein. Gerne kocht er abends in der Alsterdorfer Wohnung Spaghetti oder bereitet Fisch für seine Familie zu und wählt einen guten Tropfen aus seiner privaten Sammlung dazu aus, wenn sein Kompagnon die Winebar allein schmeißt. Das kann vorkommen. Auch wenn es selten ist. Vielleicht auch deshalb, weil Poletto seine Arbeit mit dem Wein braucht. So überschwänglich, so glückselig, ja so italienisch, wie er über Weinsorten spricht, hört man ihn selten über ein anderes Thema referieren.
Nicht von Beginn an sei das so gewesen. Doch als ein "sehr reicher" Hamburger Gast des Rive ihn zu einer privaten Blindverkostung von Bordeaux in sein Privathaus eingeladen hatte, fing er Feuer. Darüber lernte er Gleichgesinnte kennen, den Gastronomen Sebastiano Taeggi und Chefsommelier Hendrik Thoma. "Er ist mein Meister", sagt Poletto und sieht dabei nicht so aus, als meine er das ironisch. "Ich hatte zwar auch vorher schon gute Weine getrunken, aber so um das Jahr 1994 hat es mich gepackt, da fing diese verruchte Leidenschaft an." Mitten in Hamburg, nicht eben in der besten Weinlage.
"Ich bin fünfmal im Jahr mit Luigi auf Weinreisen, das ist immer ein Traum! Wir fahren dann für drei, vier Tage in Weinanbaugebiete, etwa in die Bourgogne, probieren dort neue Weine im Anbaugebiet", schwärmt er. "Erst dann kannst du einen Wein verstehen: Wenn du den Winzer kennst, den Boden, die Philosophie, die dahinter steht, die Familie, die Umgebung."
So verkauft er auch in seiner Winebar. Nicht nach Namen oder Geschmack, vielmehr erklärt er seinen Gästen den Hintergrund des Weines, seine Erinnerungen und Eindrücke. "Ich erzähle von meinen Reisen, wie die Leute da so drauf sind, wie die Hänge aussahen, wie das Klima ist. Man will ja mehr als bloß etwas zu trinken, das ist eine Philosophie."
Einen Lieblingswein habe er nicht. Er verneint mit einem lang gezogenen "Neeeiiin", und es hört sich so an, als hätte man den Vater nach seinem Lieblingskind gefragt. "Ich mag alle." Im Laufe der Jahre habe er jedoch gelernt, dass er nicht immer jedes Glas austrinken müsse. "Wenn du 30 bist, kannst du dich besaufen und machst es am nächsten Tag gleich noch mal. Mit 50 lieber nicht mehr", sagt Poletto. Heute kontrolliere er den Konsum und konzentriere sich auf besondere Weine.
Er seufzt, und es klingt gar nicht theatralisch, nur ein bisschen italienisch, als Remigio Poletto sagt: "Wein ist mein Leben."
Der rote Faden geht weiter an Prof. Andrea Cavalleri, Physiker am Desy: "Was er in seinem Labor macht, das ist Science-Fiction, ungeheuer spannend", sagt Remigio Poletto.