Hamburg. Ibrahim Abou-Nagie ist in diesen Tagen viel auf der Straße. Der Kölner ist – so würde er selbst wohl sagen – im Auftrag des Herrn unterwegs. Auch an diesem Morgen transportiert er in seinem BMW-Geländewagen etliche hundert Bücher. Die Cover sind blau und mit goldenen arabischen Ornamenten verziert. Darauf steht: „Der edle Qu’ran – Die ungefähre Bedeutung in der deutschen Sprache“.
Angekommen am Neumarkt, mitten in der Kölner Innenstadt, steht der etwa 50-Jährige hinter einem gut zwei Meter langen Tisch, auf dem eine weiße Decke liegt. Darauf steht ein kleines Werbeschild, auf dem das Wort „Lies!“ gedruckt ist. Daneben liegen die blauen Korane.
Abou-Nagie und seine Mitstreiter sind gekommen, um sie an Passanten zu verteilen – kostenlos. Das Ziel, so heißt es in einer Kurzbeschreibung des „Koran-Projekts“, sei „ein Austausch und besseres Miteinander zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen unseres Landes“. Das klingt harmlos. Doch der Verfassungsschutz ist alarmiert. Denn das Ziel sei es, „religiös motivierten Extremismus in Deutschland zu verbreiten“, sagt die Leiterin des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, Mathilde Koller. „Es ist offenbar eine koordinierte Aktion vor Ostern.“
Ibrahim Abou-Nagie ist der Cheforganisator der Aktion. Er hat Erfolg. „Infostände“ wie der von Köln standen in den vergangenen Monaten in vielen deutschen Städten, vor allem in Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Nach Schätzungen wurden mehr als 300.000 Korane unters Volk gebracht.
Am Sonnabend vor Ostern soll das Projekt eine neue Stufe erreichen. Im Internet kündigen die Aktivisten um Abou-Nagie an, ihre Stände in 35 deutschen Städten aufzubauen. Kostenlose Korane soll es unter anderem in Berlin, Hamburg, Köln, Konstanz, Hannover, Frankfurt am Main, Dresden und Osnabrück geben. Festgehalten in einem Internet-Video sagt Abou-Nagie: „Etwas Schöneres, als eine Koran-Übersetzung an die Menschen zu verschenken, gibt es nicht.“
Andere seiner Ansprachen klingen weniger friedlich. Auch sie stehen im Internet. Abou-Nagie prophezeit darin, dass alle „Ungläubigen für alle Ewigkeit in die Hölle kommen“. Ein Verheirateter, der Unzucht begeht – so sagt er, „muss gesteinigt werden.“ Auch Gewalt gehört für Abou-Nagie offenbar zur Religion. Er wünscht seinen Zuhörern: „Möge Allah uns alle als Märtyrer sterben lassen.“
Verfassungsschützern gilt Abou-Nagie als einer der gefährlichsten Prediger Deutschlands. Er gehört zu den wichtigsten Protagonisten des Salafismus. Die Bewegung gilt als die am schnellsten wachsende Strömung innerhalb des radikalen Islam. In ihren Ansprachen stellen sich die salafistischen Prediger als Vertreter des einzig wahren Islam dar. Sie zitieren Koran-Verse, Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Mohammed und Rechtsgutachten islamischer Gelehrter. Die Kern-Botschaft simpel: Folge dem Koran – dann hat dein Leben (wieder) einen Sinn. Sonst landest Du in der Hölle.
Vor allem Jugendliche – ob reich oder arm, ob deutsch oder nichtdeutsch, muslimisch erzogen oder christlich aufgewachsen - fühlen sich dadurch angesprochen. Während die großen, eher liberalen muslimischen Organisationen um Nachwuchs fürchten, sind die Moscheen der Salafisten voll. Die Ansprachen der Prediger werden im Internet zehntausendfach angeklickt – auf speziellen salafistischen Seiten oder der Videoplattform youtube.
Die Bewegung bereitet deutschen Sicherheitsbehörden Kopfschmerzen. „Die Salafisten predigen ein einfaches Weltbild, in dem es nur Gut und Böse gibt“, sagt die stellvertretende Leiterin des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, Catrin Rieband. Für junge Leute auf der Suche nach Identität sei das attraktiv. Die westliche Gesellschaft beschrieben Salafisten als dekadent und verwerflich. „Die Minderheit der dschihadistischen Salafisten befürwortet auch Gewalt“, sagt Rieband. In Extremfällen würden junge Leute sich sogar zu Terroristen radikalisieren. Ein Beispiel sei Arid U. – der 21-Jährige erschoss vor rund einem Jahr aus Hass am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten.
Die Salafisten-Szene blieb bisher – trotz zwischenzeitlicher Annäherungen – weitgehend zersplittert. Mal stritten die Gruppen um die korrekte Auslegung von Koransuren. Dann warfen sich Prediger gegenseitig vor, sich bei den „Ungläubigen“ anzubiedern, zu radikal zu sein oder kein „richtiges“ Verständnis vom Islam zu haben.
Das Koran-Projekt von Ibrahim Abou-Nagie stellt einen gemeinsamen Nenner dar, auf den sich viele der Gruppen und Prediger einigen können. In Hessen etwa stehen Anhänger der Frankfurter Salafisten-Gruppe DawaFFM in den Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen.
In Hamburg koordiniert die Aktion laut Verfassungsschutz der Hansestadt der einstige Sprecher der berüchtigten Taiba-Moschee. Der Gebetsort am Steindamm war im August 2010 wegen allzu offensiver islamistischer Propagandaarbeit geschlossen worden.
Rückendeckung bekommt das Projekt auch von dem Star der deutschen Salafisten-Szene, Pierre Vogel. Der deutsche Konvertit ist Abou-Nagie wegen dessen ultraradikaler Ansprachen bisher meist aus dem Weg gegangen. Das Koran-Projekt dagegen bewirbt auch Vogel in einer eigens dafür produzierten Videobotschaft.
Der neueste Stargast trat kürzlich in Wuppertal auf: Robert B., ein 24-jähriger Konvertit aus Solingen, hatte in England gerade erst eine Haftstrafe abgesessen, weil er Terrorpropaganda mit sich geführt hatte. An dem Koran-Stand durfte der Rückkehrer nun sogar eine kleine Grußbotschaft in die Kamera sprechen.
Ebenfalls in Wuppertal machte auch der Ex-Rapper „Deso Dogg“ seine Aufwartung. Der zum Islamisten mutierte Berliner schwadroniert gerne vom getöteten Al-Kaida-Führer Osama bin Laden als „schönsten Märtyrer dieser Zeit“. In Wuppertal sagte er: „Wir bringen den Frieden (...) und wir bringen Glückseligkeit.“ Die hessische Verfassungsschützerin, Catrin Rieband, betrachtet das Koran-Projekt mit Sorge: „Ziel ist, die Menschen nicht nur zum Islam zu bringen, sondern zum Salafismus.“