Selbst Wulff hatte es vor seiner Wahl zum Staatsoberhaupt leichter als Gauck heute
Der eine Bundespräsident ist nicht einmal per Zapfenstreich halbwegs würdevoll verabschiedet, da wird bereits nach Leibeskräften an der Würde des noch ungewählten Nachfolgers gerüttelt. Die Kritik an Joachim Gauck kommt aus höchst unterschiedlichen Ecken. Sie tröpfelt eher, als dass sie auf den 72-Jährigen einprasselt. Aber kein Tag vergeht, ohne dass nicht die Lebensleistung des Pastors und ersten Stasiunterlagen-Beauftragten angezweifelt wird.
Vor zwei Jahren ein Heilsbringer, heute ein Scheinheiliger? Wahrlich scheinheilig ist die Debatte um den Nominierten für Schloss Bellevue. Kein Zweifel: Die Demokratie verlangt nach der kritischen Begleitung ihrer Amtsträger. Auch hat diese kritische Begleitung die Maßlosigkeiten Christian Wulffs zutage gefördert. Allerdings erreicht nun die vorauseilende Kritik am Noch-nicht-Amtsträger Gauck eine Maßlosigkeit, die dem ohnehin beschädigten Amt des Bundespräsidenten keine Regeneration gönnt.
Erst erhob sich die sogenannte Internetgemeinde gegen den gemeinsamen Kandidaten von Union, SPD, FDP und Grünen, weil er für die Vorratsdatenspeicherung war und den Sinn der Occupy-Bewegung infrage stellte. Dann wurden von politischer Seite seine Familienverhältnisse hinterfragt. Es folgten Weggefährten Gaucks, die öffentlich an seiner Bezeichnung als "Bürgerrechtler" zweifelten", weil er in ihren Augen kein Widerstandskämpfer gewesen sei, sondern nicht mehr als ein Revolutionspastor aus Rostock-Evershagen.
Zuletzt fühlte sich der Philosoph Peter Sloterdijk bemüßigt, auf Gaucks "pastorale Identität" hinzuweisen, die bald vielen auf die Nerven gehen könnte. Obwohl Gauck noch kein einziges Wort als Bundespräsident gesprochen hat, rechnet Sloterdijk schon jetzt mit atheistischen, katholischen und antiautoritären Reaktionen.
Soll das nach dem 18. März, dem Wahltag in der Bundesversammlung, so weitergehen mit den Sticheleien und der vielschichtigen Suche nach Charakter- und Persönlichkeitsschwächen Gaucks? Da hatte es selbst ein Christian Wulff leichter vor seiner Wahl 2010. Im Schatten der damaligen Euphorie über die ohnehin chancenlose Nominierung des "Bürgerpräsidenten" Gauck galt Wulff selbstverständlich als respektabler Kandidat.
Anstatt nach Schwächen zu suchen und seine fehlende Lebenserfahrung zu diskreditieren, wurde Wulffs Alter seinerzeit als Chance für das Amt gewertet. Ja, es herrschte sogar die freudige Erwartung, mit dem CDU-Politiker könne ein von Bundeskanzlerin Angela Merkel recht unabhängiger, hochpolitischer Kopf ins Schloss Bellevue einziehen. Das Amt stand vor einer Neudefinition. Heute wissen wir zwar, dass Wulff als Bundespräsident weit unter den Erwartungen zurückblieb. Aber aus dieser Erfahrung heraus dem nächsten Amtsträger mit größtmöglichem Pessimismus zu begegnen dient niemandem.
Daran sollte auch die Bundestagsfraktion der Linkspartei denken, wenn sie heute Gauck empfängt. Keine Partei lehnt ihn bekanntlich mehr ab. Man darf davon ausgehen, dass die Linke den gemeinsamen Termin zum Anlass nehmen wird, Gauck öffentlichkeitswirksam zur falschen Wahl für Deutschland zu erklären. Der Schmerz des Kritisierten wird sich in diesem Fall in Grenzen halten. Der Prozess der schleichenden Diskreditierung der zukünftig ranghöchsten Persönlichkeit des Landes setzt sich dennoch fort.
Es wird also Zeit, dass der bald gewählte Bundespräsident Joachim Gauck selbst das Wort erhebt. Möge die pastorale Identität ruhig in seine Reden einfließen. Wie sich Beiträge von Staatsoberhäuptern anhören, die vorher Politiker, Banker oder Richter waren, wissen wir. Dieses Land hat nicht nur mehr rhetorische Brillanz verdient, es hat gerade nach dem Wulff-Debakel verdient, seinem zukünftigen Präsidenten mit Wohlwollen und Optimismus entgegenzutreten. Erst recht, weil Gauck stets die erste Wahl der deutschen Bevölkerung war.