Ina Drewitz aus Hamburg wäre fast an EHEC fast gestorben. Das war im Jahr 2011. Ihr Weg zurück ins Leben ist immer noch schwierig.
Hamburg. Sie hat ihren Text "Einmal Hölle & zurück" genannt. Ina Drewitz hat damit begonnen, ihre Geschichte aufzuschreiben. Bislang füllt sie drei Seiten. "Vielleicht ist es dann von meiner Seele weggeschrieben", sagt sie.
Fast einen Monat lang lag Ina Drewitz im vergangenen Jahr im UKE, sie war eine der ersten EHEC-Patienten in Hamburg. Fast wäre sie gestorben. Jetzt kommen die Gedanken an ihre Hölle zurück: Gerade hat ein Mädchen die EHEC-Infektion nicht überlebt, und es gibt weitere neue Fälle. "Ich hatte angefangen, das zu verarbeiten - und dann kommt es wieder", sagt Ina.
Ina Drewitz ist 19 Jahre alt. Beim Spaziergang durch Eppendorf legt sie ein gutes Tempo vor - kein Vergleich zu ihrem schleichenden Gang nach ihrer Entlassung aus der Klinik. Sie hat ihr Aussehen verändert. Die Haare sind dunkel gefärbt, sie trägt jetzt eine modische schwarze Brille, ihr Gesicht hat eine gesunde Farbe, sie ist dezent geschminkt. Im EHEC-Sommer 2011 war Ina blond und blass.
"Die Leute stellen sich EHEC völlig falsch vor", sagt Ina. "Sie denken, man wird krank und danach wieder gesund. Dass es so lange anhält, hätte ich selbst nicht gedacht." Wenn Ina fröhlich erzählt und im Café Kaiserschmarrn isst, sind diese Worte ein Kontrast. Es ist ihr ein Anliegen, zu erzählen, wie sich EHEC anfühlt, wenn die Lebensgefahr vorerst gebannt scheint.
"Ich war für ein Praktikum in Hamburg, und ich habe mich auch sehr darüber gefreut, denn ich durfte in einer Werbeagentur arbeiten", steht in Inas EHEC-Tagebuch. "Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass das mein Ding ist." Nach der Schule hatte Ina eine Weile gebraucht, bis sie wusste, was sie beruflich interessiert. Ihre Eltern sind geschieden. Ina lebte bis zum vergangenen Jahr bei ihrer Mutter Andrea Drewitz auf Sylt. Zum Praktikum zog sie zu ihrem Vater Ulrich nach Hamburg.
Als sie Durchfall bekam, schoben es ihre Eltern auf das neue Umfeld.
Doch dann ging es Ina immer schlechter. Sie musste sich immer wieder übergeben, hatte Blut im Stuhl und starke Bauchschmerzen. Am 20. Mai 2011 kam sie ins Klinikum St. Georg, die EHEC-Diagnose stellten die Ärzte noch dort. Sie hatte Sprossen gegessen. Sprossen wurden später als Überträger von EHEC identifiziert.
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Ina wurde ins UKE auf die Intensivstation verlegt. Sie hat in ihren Aufzeichnungen festgehalten, wie sie die Überführung erlebt hat: "Es kamen zwei Männer zu mir ins Zimmer, die sahen aber eher aus, als ob sie zum Mars fliegen wollten, denn sie hatten so gelbe Ganzkörperanzüge an. Es war schon ein komisches Gefühl, dass niemand mich mehr anfassen sollte, ohne sich zu schützen. Als ob ich jetzt eklig werde. (...) Sie haben mich nach draußen in einen Krankenwagen geschoben, und ich habe gefragt, ob ich mit Blaulicht fahren darf. Der Mann lachte nur unter seiner Maske und sagte, dass ich ganz bestimmt mit Blaulicht fahren darf und sogar muss."
Ina hatte HUS, das Hämolytisch-urämische Syndrom, das Blutzellen zerstört und die Nieren kaputt macht. Im UKE wurde Inas Blut gewaschen, ihr Körper mit der Dialyse-Maschine entgiftet. Sie erinnert sich an die vielen piepsenden Geräte. An die Schläuche, die Flüssigkeiten in ihren Körper leiteten. Und sie erinnert sich daran, wie die Krankheit Besitz von ihrem Nervensystem ergriff: Ina sah Farbpunkte an der Wand, eine Monster-Qualle und tote Menschen. Ihre Nierenwerte waren auf das Zehnfache erhöht. Ihre Aufzeichnungen enden vorläufig an dieser Stelle.
Ihre Eltern mussten ihren Lebenskampf mit ansehen. Sie sind zwar geschieden, aber als Elternpaar funktionieren sie. Beide waren bei ihrem Kind. Andrea Drewitz las ihrer Tochter aus "Dschungelkind" vor, einem Buch, das Ina früher so gerne gemocht hatte.
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Inas Rettung war das wenig erforschte Medikament Eculizumab, das die verzweifelten Mediziner schließlich einsetzten. Sie operierten Ina an der Galle und versetzten sie dann für zwei Tage ins künstliche Koma. Danach besserten sich ihre Werte. Inas erstes richtiges Essen waren Spaghetti Bolognese. Am 22. Juni wurde Ina Drewitz entlassen. Sie hatte kaum Kraft, um in die Tiefgarage zum Auto ihres Vaters zu laufen. Die ersten Tage blieb sie bei ihm, weil sie noch häufig ins UKE musste. Schließlich durfte sie zu ihrer Mutter nach Sylt. Auf dem Weg dorthin lief im Autoradio das Lied "Westerland" von den "Ärzten". Ina freute sich auf zu Hause - ihr jüngerer Bruder war die ganze Zeit dort geblieben, ihr älterer Bruder, der schon berufstätig ist, hatte sie in der Klinik besuchen können. Sie blieb anfangs viel im Haus und machte nur wenig mit ihren Freunden. "Ich hatte Angst, dass die Leute mich eklig finden, etwa aus Angst davor, dass ich sie anstecken könnte", sagt Ina. Sie war damals nicht gern allein. Nachts konnte sie nur schlafen, wenn ihre Tür einen Spalt weit offen stand. Im Krankenhaus war es nach ihrer Erinnerung immer dunkel gewesen.
Sie wollte wieder auf eine Party gehen, was Teenager halt so tun. Doch schon nach wenigen Minuten rief sie ihre Mutter weinend an und flehte, dass sie abgeholt werden wollte. "Ich konnte einfach nicht mehr", sagt Ina.
Im August besuchte sie ihren Vater in Hamburg. Die beiden gingen auf den Dom, sie wollten Inas neues Leben feiern - mit Zuckerwatte. Ina fuhr mit dem "Airwolf", das Fahrgerät drehte sich, schüttelte Ina kräftig durch, lustig war das, wie früher. Am nächsten Morgen konnte sich Ina kaum bewegen, sie zitterte, ihr war kalt. Ihr Vater fuhr wieder mit ihr ins UKE, wo die Ärzte sie über Nacht dort behalten wollten. Das wollte sie nicht, ihr Vater nahm sie schließlich wieder mit nach Hause. Am nächsten Tag ging es ihr besser.
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Eine Woche später, wieder auf Sylt, sah sie sich mit ihrer Freundin im Kino den Film "Planet der Affen" an. Plötzlich bekam sie starke Kopfschmerzen, ihre Beine zitterten. Ihre Hausärztin vermutete eine Hirnhautentzündung, schickte sie ins UKE. Vier Tage musste Ina Drewitz wieder auf die Station, in der sie fast einen Monat zugebracht hatte. Nachts konnte sie vor Angst nicht schlafen. Die Diagnose: Ina hatte keine Hirnhautentzündung. Was ihr fehlte, wussten die Ärzte nicht. Eine Tatsache, die ihre Familie bis heute beunruhigt.
Die Ärzte sagen, dass Inas Nieren nur zu etwa 60 Prozent funktionieren. Normalerweise merkt die junge Frau das nicht, aber wenn sie krank wird. Sogar von einem Schnupfen erholt sich ihr Körper erst nach Wochen.
Nach der Entlassung aus der Klinik wog sie 45 Kilo - mittlerweile hat sie ihr altes Gewicht von 52 Kilo wieder erreicht. Was ihr aber zu schaffen machte, war die Enge auf Sylt. In der Nachbarschaft wussten alle von ihrer Erkrankung. Immer wieder wurde sie darauf angesprochen. Anfangs hat die Solidarität der Familie noch geholfen. Aber EHEC war jeden Tag da. "Ich konnte meine Krankheit nicht verarbeiten. Ich hatte keine Chance, sie zu vergessen", sagt Ina.
Da kam ein Angebot aus Hamburg: Die Werbeagentur, in der Ina ihr Praktikum begonnen hatte, bot ihr die Rückkehr an. Die Kollegen wollten Ina nicht wie eine Kranke behandeln. "Ich sollte selbst entscheiden, wie lange ich arbeiten konnte."
Ihr Vater war mittlerweile nach Österreich gezogen, in diesem Sommer will er in Tirol ein Hotel eröffnen. Ina kam in den ersten Wochen bei einer jungen Frau unter, die ebenfalls an EHEC erkrankt war und mit ihr ein Zimmer im UKE geteilt hatte. Daraus ist eine Freundschaft entstanden.
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Zunächst arbeitete Ina von 9 bis 15 Uhr. Das Praktikum macht ihr großen Spaß - sie lernt Grafikdesign, begleitet Foto-Shootings; ihre Kollegen findet sie sehr nett. Mittlerweile schafft sie wieder ganze Arbeitstage. Aber ihr und den Kollegen fiel auf, dass Ina sich Dinge nur schlecht merken kann. "Das finde ich schon gruselig. Früher habe ich alles behalten."
Seit Januar hat sie ihre erste eigene Wohnung in Hummelsbüttel, 35 Quadratmeter, Balkon, 525 Euro warm. Ina geht gerne ins Kino, schaut sich gerne DVDs an. Im Juni will sie zum Festival "Rock am Ring" fahren. Das wollte sie schon 2011. In diesem Jahr möchte Ina in Hamburg eine Ausbildung zur Kommunikationsdesignerin beginnen.
In einem kleinen Kästchen hat sie die Dinge aufbewahrt, die sie an EHEC erinnern. Die Briefe, die sie in der Klinik bekam, sind darin. Und das weiße Bändchen, das sie damals im UKE um das Handgelenk gebunden hatte mit dem Barcode der Nummer 0515295688.
Sie schaut nur noch selten in das Kästchen. Manchmal kommen ihr noch Gedanken wie "Ich hätte sterben können" oder "Was wäre gewesen, wenn ich es nicht geschafft hätte?". Neulich war das der Fall, als im Film ein Koma-Patient gezeigt wurde, um sein Bett standen die Angehörigen. "Es tut mir dann immer so leid um meine Eltern, die das alles mit ansehen mussten", sagt sie.
Seit EHEC jetzt wieder ein Thema in Hamburg ist, sind die Ängste wieder da, sagt Ina. "Die Krankheit ist noch nicht ausreichend erforscht. Ich weiß nicht, ob es bei mir noch einmal schlimmer wird oder ob ich eines Tages eine neue Niere brauche."
Und dennoch betont Ina auch positive Dinge, die sie mit EHEC verbindet. Sie erwähnt die neuen Freundinnen, die sie auf der EHEC-Station kennenlernte. Und ihre Eltern. "Ohne sie, da bin ich mir ganz sicher, hätte ich das nicht überlebt." Die Gedanken an das Positive helfen ihr.
"Seit das Thema EHEC nicht mehr so präsent ist, denken die Leute, alles sei gut", sagt ihre Mutter Andrea. "Es ist aber nicht gut. Ina ist ein kranker Mensch." Es komme vor, dass Ina plötzlich anfängt zu weinen. Oder sich zu schlapp fühlt für alles. Andrea ruft ihre Tochter täglich an, schreibt Mails. Damit sie weiß, ob es Ina gut geht.
Ulrich Drewitz brauchte einen Psychologen, um mit den Erlebnissen fertig zu werden. Wenn es ihm schlecht ging, hat er anfangs noch das Foto betrachtet, das er von Ina auf der Intensivstation gemacht hat. Seine Tochter ist darauf zu sehen, als Komapatientin. "Ich habe mir das Bild angesehen - und wusste danach, dass es mir eigentlich gut geht." Sein Leid sei nichts gegen das seiner Tochter gewesen. Dass seine Tochter wieder nach Hamburg gezogen ist und jetzt eine eigene Wohnung hat, macht ihn stolz. Neulich habe sie ihn angerufen und gesagt: "Papa, ich glaube, jetzt werde ich erwachsen."