Jan Steffens führt jetzt die 1800-Seelen-Gemeinde St. Petri in Altona. Der 53 Jahre alte Pastor aus Büsum verbreitet Aufbruchstimmung.
Hamburg. Eigentlich will Jan Steffens vor allem eine Botschaft loswerden: "Von beiden Seiten wollen wir einen Neuanfang, der Pastor vom Land und die Gemeinde in Altona." Vor einigen Wochen hat er sein Amt an St. Petri übernommen, zuvor war er 25 Jahre im Nordseebad Büsum. Jetzt steht er in seiner neuen Kirche, die Wintersonne leuchtet durch die große Buntglasrosette auf den Altar. "Das ist Petrus", sagt der 53-Jährige und deutet nach oben, "der Menschenfischer."
Das passt, denn es ist eben kein normaler Pfarrwechsel. Vor einem Jahr hatte ein Sex-Skandal unter den hohen Bögen der neugotischen Kirche für Schlagzeilen gesorgt. Beteiligt waren Steffens Vorgänger und eine junge Kirchenvorsteherin. Bei seinem Einführungsgottesdienst hat der Neue auf der Kanzel deshalb nicht von ungefähr über Scham und die Kraft des Evangeliums gepredigt. "Ich rechne schon damit, dass es unter der Oberfläche in der Gemeinde noch brodelt", sagt er.
Es war am Buß- und Bettag im November 2010. Nach dem Abendgottesdienst hatten die Gläubigen bei Rotwein und Knabberzeug zusammengesessen, irgendwann nach Mitternacht waren nur noch Michael G., Petri-Pastor und stellvertretender Propst im Kirchenkreis Hamburg-West, und eine Frau übrig. Was dann geschah, ist unklar. Am nächsten Morgen soll die Frau zum Teil unbekleidet und mit einem Talar bedeckt zwischen Kirchenbänken aufgewacht sein. Der Geistliche, dessen Ehefrau und drei Kinder nur wenige Meter entfernt in der Pastorenwohnung schliefen, lag daneben. In den folgenden Tagen schickte er ihr mehrere E-Mails mit Entschuldigungen. Nach drei Wochen meldete die 32-Jährige den Vorfall dem vorgesetzten Propst. Kurz darauf suspendierte das Kirchenamt den Geistlichen, schaltete die Staatsanwaltschaft ein.
Der anfängliche Verdacht, es habe sich um sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger gehandelt, wurde durch die Ermittlungen nicht bestätigt, das Verfahren im Sommer eingestellt. Auch das kirchliche Disziplinarverfahren ist inzwischen abgeschlossen. "Das Pastor G. vorgeworfene Verhalten wurde gerügt", sagt der stellvertretende Sprecher der Nordelbischen Kirche, Mathias Benckert. "Weitere Konsequenzen gibt es nicht."
Über seinen künftigen Dienst würden Gespräche mit dem 50-Jährigen geführt. Derzeit ist er offiziell vom Dienst freigestellt, arbeitet aber vertretungsweise als Referent für Landespastorin Annegrethe Stoltenberg. In den nächsten Wochen soll er eine neue Aufgabe übernehmen - möglicherweise auch in einer Gemeinde. Die Frau ist inzwischen aus dem Kirchenvorstand ausgeschieden.
Nun also ein Neuanfang in St. Petri. Er habe sich spontan auf die Großstadt-Stelle beworben, sagt Pastor Steffens, und erst danach von dem Vorfall erfahren. "Beeinflusst hat mich das nicht. Ich wollte den Wechsel", sagt der gebürtige Nordfriese. Unter sechs Bewerbern wählte die Gemeinde ihn aus, auch weil er "ein handfester, bodenständiger Typ ist", sagt der Vorsitzende des Kirchenvorstands, Bernd Rickert. Inzwischen ist der neue Pastor mit Frau und 14-jähriger Tochter in die Pastorenwohnung eingezogen und fühlt sich nach eigenen Worten "sehr wohl". Es sei schon etwas anders als im Dithmarscher Urlaubsort Büsum. Statt 300 Menschen im Gottesdienst sind es in der 1800-Seelen-Gemeinde in Altona-Altstadt gerade mal 60. Statt 30 Konfirmanden hat er sechs, darunter seine Tochter. Den Skandal von vor einem Jahr will er am liebsten auf sich beruhen lassen. Ihm gehe es darum, "eine hörbare Botschaft zu verkünden, die Gemeinde zu öffnen und den Dialog mit den Religionen zu fördern", sagt er. "Ich stehe für den Aufbruch."
Einfach wird es nicht werden. "Es war eine harte Zeit", sagt Kirchenvorsteher Rickert. Er und andere haben sich im vergangenen Jahr bemüht, das Gemeindeleben mit Seniorentreff, Kinderkirche und Posaunenchor aufrechtzuerhalten. Zwei Vertretungspfarrer übernahmen die seelsorgerischen Aufgaben. "Wir haben ein paar Gemeindemitglieder verloren, aber es war immer klar, dass wir uns nicht unterkriegen lassen", sagt der pensionierte stellvertretende Schulleiter, der für sein Engagement im März mit dem Ansgarkreuz ausgezeichnet wird. Informationen über den Fall blieben auf Geheiß der Kirchenleitung intern. Eine Konsequenz wurde allerdings sofort umgesetzt: Alkohol ist in der schmucken Backsteinkirche seither verboten.
Zwar betont auch Rickert, dass nach Ende der rechtlichen Aufarbeitung "die Sache G. jetzt Geschichte" sei, aber natürlich sind auch nach einem Jahr die Gespräche und Gerüchte um die Novembernacht 2010 nicht verstummt. "Der Pastor wurde von dem Vorwurf des Missbrauchs freigesprochen, aber hat schwere Fehler gemacht", sagt ein Gemeindeglied, das nicht genannt werden will. In dem Amt habe er eine Vorbildfunktion und müsse sich unter Kontrolle haben. Andere finden "die Sache zu Unrecht aufgebauscht". Die frühere Kirchenvorsteherin hatte den Skandal durch ein Interview mit der "Bild"-Zeitung öffentlich gemacht, seither schweigt sie. Sicher ist, dass an keinem der Beteiligten die Affäre spurlos vorbeigegangen ist.
Neues Vertrauen schaffen, das wird eine Aufgabe des neuen Gottesmanns in St. Petri sein. Er habe auch mit seinem Vorgänger Kontakt aufgenommen, sagt Jan Steffens. "Ich wollte nicht mit einem Phantom leben." Er stehe für eine Kirche, die mit Konflikten offen, wahrheitsgetreu und vergebend umgeht. "Wenn wir das nicht können, von wem sollen wir das dann erwarten?"
In der nächsten Zeit kommen auf den neuen Pastor sowieso erst einmal ganz praktische Probleme zu. Die beiden Türme der 1883 gebauten Kirche müssen saniert werden, nachdem die Kupferplatten sich bei einem Sturm gelöst hatten. Die Kosten werden auf etwa eine Million Euro geschätzt.