Chantal wird heute beerdigt. Immer mehr Parteien fordern Rücktritt des Bezirksamtsleiters
Hamburg. Die Jugendämter der sieben Bezirke haben damit begonnen, die Akten aller 1300 Hamburger Pflegefamilien nach Hinweisen auf Drogensucht und Straftaten zu überprüfen. Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) hatte dieses Vorgehen Anfang vergangener Woche angekündigt, nachdem die elfjährige Chantal an einer Methadonvergiftung in der Wilhelmsburger Wohnung ihrer drogensüchtigen Pflegeeltern gestorben war. Chantal soll heute beerdigt werden, die Trauerfeier im privaten Kreis stattfinden.
Die Jugendämter haben bis zum 15. Februar Zeit bekommen, alle Akten zu sichten. In ganz Hamburg sind mehr als 100 Mitarbeiter in den Bezirksämtern mit der Überprüfung der Akten beschäftigt. Sie arbeiten dabei in Zweier-Teams. Einem Jugendamtsmitarbeiter wird ein Kollege aus einer anderen Abteilung zur Seite gestellt. "Damit haben wir einen in der Materie erfahrenen Mitarbeiter und einen, der von außen auf die Fälle schauen kann", sagt Frank Schwippert, Sprecher des Bezirksamts Wandsbek, das die Jugendhilfefragen für ganz Hamburg koordiniert. Mit diesem Prinzip solle die im Fall Chantal vorgeworfene Betriebsblindheit vermieden werden. So hatten die Jugendamtsmitarbeiter im Bezirk Mitte das Fehlen von Möbeln in der Wilhelmsburger Wohnung als nicht kindeswohlgefährdend angesehen. Zudem werde kein Sachbearbeiter seine eigene Akte prüfen, betonte Schwippert.
In den Akten suchen die Beamten nun nach Hinweisen auf Drogen oder Gewalt. So ist es möglich, dass Nachbarn, Lehrer oder Polizeibeamte Meldungen über Auffälligkeiten an die Jugendämter weitergegeben haben, ohne dass ihnen nachgegangen worden wäre.
In der Bezirksversammlung Mitte ist die Front derjenigen, die den Rücktritt von Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) fordern, breiter geworden. Die Fraktion der Linken und die Piraten fordern in einem gemeinsamen Antrag einen "strukturellen Neubeginn" der Jugendhilfe. "Dazu muss Bezirksamtsleiter Schreiber sein Amt zur Verfügung stellen", so Linke und Piraten. Zuvor hatten bereits die Fraktionen von CDU und GAL den Rücktritt verlangt. Zentraler Grund für eine Demission ist Schreibers Eingeständnis, die nach dem Tod Chantals abberufene Jugendamtsleiterin Pia Wolters schon seit 2009 für nicht geeignet auf dem Posten gehalten zu haben, ohne sie allerdings schon damals zu ersetzen.
Trotz der Einigkeit von CDU, GAL, Linken und Piraten reicht es nicht zur Abwahl Schreibers: Die beiden FDP-Abgeordneten bleiben bei ihrer Unterstützung für den Bezirksamtsleiter. Die SPD, die zu Schreiber hält, hat 25 Stimmen, die fünf anderen Fraktionen 26.
Rund eine Stunde lang haben die SPD-Bürgerschaftsabgeordneten auf ihrer Fraktionssitzung gestern Abend über den Fall Chantal diskutiert. Kein Parlamentarier forderte den Rücktritt Schreibers. "Wir sind uns einig, den stark fachorientierten Ansatz weiter zu verfolgen", sagte SPD-Fraktionschef Andreas Dressel. Es dürfe nicht bei "oberflächlicher Verfahrenskosmetik" bleiben. Vielmehr gehe es darum aufzuklären, wo es "Systemversagen" gegeben habe, wo Kontrollstrukturen bei der öffentlichen Betreuung von Kindern verbessert werden müssten.
"Mit parteipolitischen Debatten ist dem Kindeswohl nicht gedient", sagte Dressel in Anspielung auf Rücktrittsforderungen gegen Schreiber und SPD-Mitte-Chef Johannes Kahrs, der Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses ist. "Wann, ob und wie sich die Frage nach personellen Konsequenzen stellt, ist Spekulation, solange die Endergebnisse der Innenrevision nicht vorliegen", sagte der SPD-Politiker. Der Tod Chantals ist Thema der Aktuellen Stunde der morgigen Sitzung der Bürgerschaft.