Europa braucht keine einheitliche Rangliste für Berufsabschlüsse und Bildungsniveaus
Auf der Skala von eins bis acht bin ich also eine Sieben. Der sogenannte Deutsche Qualitätsrahmen bewertet mich so, weil ich ein abgeschlossenes Universitätsstudium aufweise. Zur Acht, der höchsten Stufe, könnte mir allein ein Doktortitel verhelfen: Fach, Arbeitsaufwand und wissenschaftliche Brillanz wären dabei völlig egal. Schlechter eingestuft als ich ist allerdings der erfahrene Augenoptikermeister, der in größter Präzision an einem Hightech-Arbeitsplatz Kontaktlinsen hergestellt hat, die die Schwäche meiner kurzsichtigen Augen exakt ausgleichen können. Ich bewundere und brauche seine Arbeit, da sie mein Leben erleichtert. Der Optikermeister ist in der Skala des Qualitätsrahmens eine Sechs, seine Gesellen stehen auf einer Vier. Ist das gerecht?
Fürs Erste müssen wir hinnehmen, dass sich Bund, Länder und Sozialpartner tatsächlich die Freiheit genommen haben, den Wert der Bildung zu berechnen. Sämtliche Bildungsabschlüsse werden in besagten acht Stufen sortiert. Diese sollen auch noch europaweit gelten. Einfacher kann man sich die Sache wahrlich nicht machen. Eine simple Schablone wird über die Bürger gestülpt, ganz gleich, ob sie zu ihnen passt, ganz gleich, ob sie ihnen hilft oder schadet. Eigentlich soll die pauschale Bildungsbemessung Arbeitnehmern und Arbeitgebern das Berufsleben im europäischen Kontext erleichtern und ihre Mobilität fördern: Abschlüsse und Bildungsniveaus sollen vergleichbarer und transparenter werden. Das Gegenteil erreicht das neue bildungsbürokratische Monster. Individuelle Kompetenzen und Qualifikationen, Talente und Wissensaneignungen werden schlicht ignoriert. Ähnlich wie beim Ringen um einen EU-weiten Fiskalpakt sollen ungleiche Partner auf Krampf auf ein gleiches Niveau gehievt werden. So sehr der Fiskalpakt notwendig ist, so überreguliert und überflüssig kommt solch ein punktebasierter europäischer Qualifikationsrahmen daher. An dieser hanebüchenen Simplifizierung beruflicher Niveaus kann doch kein EU-Staat Interesse haben.
Der Irrsinn des neuen Stufensystems wird nicht erst im europäischen Vergleich sichtbar. Er zeigt sich schon beim Umgang mit deutschen Schulabschlüssen, die auf der Rangliste vorerst fehlen. Das Abitur hätten die Bildungsminister gern auf Stufe fünf gesehen. Doch damit wäre es höher angesiedelt als die meisten Berufsabschlüsse, was Unternehmer und Gewerkschaften ungerecht fanden. Die Entscheidung darüber ist verschoben. Vielleicht sollten die selbst ernannten Bildungsbewerter beim nächsten Versuch daran denken, dass es das klassische deutsche Abitur gar nicht gibt. Genügend Vergleichstests belegen, dass die Aussagefähigkeit deutscher Abiturnoten auf tönernen Füßen steht. Man erinnere sich nur an die statistisch belegten Leistungsunterschiede von Abiturienten in Hamburg und Baden-Württemberg.
Wer es ernst meint mit dieser merkwürdigen Qualitätstabelle und gleichzeitig den Charakter des deutschen Bildungsföderalismus berücksichtigt, kann bei der noch ausstehenden Bewertung des Abiturs nur ins Grübeln geraten. Verdient das Hamburger Abitur womöglich nur eine knappe Vier, während die Hochschulreife im Südwesten mindestens eine Fünf ergibt? Abitur ist nicht gleich Abitur, predigen deutsche Bildungspolitiker. Aber für den europäischen Bildungsgleichheitsgedanken tun sie jetzt mal so, als habe man ein bundesweites Zentralabitur und auch sonst ein ziemlich zentral gesteuertes Bildungssystem. Zur Ungerechtigkeit des Bewertungsschemas droht auch noch politische Unaufrichtigkeit hinzuzukommen.
Ein aufrichtiges Ranking und faire Vergleichbarkeit gibt es nicht. Die Punkteskala erbringt den unfreiwilligen Beweis. Europa sollte in seiner bildungspolitischen Annäherung besser gleich auf sie verzichten.
Der Autor leitet das Hauptstadtbüro des Abendblatts