Bei der Schauspielerin wird Brustkrebs diagnostiziert. Sie dreht ein Video-Tagebuch. Die Dokumentation ist für den Grimmepreis nominiert.
Hamburg. Sie kommt mit dem Taxi zu dem kleinen Café in Winterhude. "Prinsessan" heißt es. Als sie aussteigt, schaut sie gleich auf ihr Handy. Bis der Gastwirt sie begrüßt, er kommt extra heraus und öffnet ihr die Tür. Sie ist Schauspielerin, Bussi links und rechts. Man kennt sich. Sie lachen, flöten sich Wörter wie "endlich" und "lange nicht gesehen" und "Was macht eigentlich ...?" zu. Sie sind leicht, aufgedreht. Kathrin Spielvogel kennt man, vor allem aus dem Fernsehen: In Vorabendserien oder ZDF-Sonntagsfilmen ist sie oft zu sehen. Sie ist jung, hat schöne, helle Haut, ganz rein, eine gute Figur, eine sympathische Stimme. Manchmal schaut sie affektiert, künstlich, imitiert Tonfälle. Schauspielerin halt.
Die Diagnose bekam sie Anfang März 2006. Ein invasives Karzinom in der rechten Brust. Invasiv heißt, dass der Tumor umliegendes Gewebe angreifen, streuen, metastasieren kann. Ihrer war sehr aggressiv und bedeutete für die Schauspielerin den Verlust ihrer Brust. Es war klar, die Ärzte würden sie ihr abnehmen müssen, damit sie eine Chance zu überleben hat. Damals war sie 34 Jahre alt. Zu jung zum Sterben.
Auf den Tischen des Cafés stehen kleine Vasen mit gelben Tulpen. Kathrin Spielvogel bestellt einen grünen Tee mit Zitronengeschmack, dazu ein Stück französische Limonentorte. Sie hat noch nicht gefrühstückt und redet los. Sie versprüht Energie.
Schlaff, müde, mit Glatze, ausgemergelt in einem Bett, im Arm eine Kanüle, durch die die Infusion der Chemotherapie läuft, dieses Bild scheint nicht zu ihr zu gehören. Da sitzt sie doch und erzählt von der Berlinale, von ihrer Tournee demnächst, mit dem Düsseldorfer Theater.
Während sie krank war, als sie Ärzte suchte, sich erkundigte, ob die Brust wirklich ab müsse, bis zur Operation und der Chemotherapie, während dieser Monate hat sie sich gefilmt. Mit einer kleinen Videokamera. Sie sprach dabei direkt aus, in ungeschönten Worten, was sie fühlte und dachte. Vor der OP, nach der OP, während der Chemo und danach.
Vor einem Jahr hat sie aus diesen Bildern, Szenen, mit dem Filmemacher Nicholas Feustel einen Dokumentarfilm geschnitten. "Ich will ja leben, oder?" lief im Dezember 2009 in der Reihe "Spiegel TV Reportage" auf VOX. Ein Riesenerfolg,
Spielvogel bekam viele E-Mails und Briefe, von Krebskranken, Angehörigen und Menschen, die ihr Schicksal berührt hat. "Ich habe den Eindruck, dass dieser Film vielen Menschen hilft, weil er da weitergeht, wo die Berichte sonst enden", sagt Kathrin Spielvogel. Es ist der Alltag einer jungen Frau mit tödlicher Krankheit. Man sieht sie in Situationen, die eigentlich nur ihr gehören sollten und in denen man als schöne Schauspielerin eigentlich nicht gesehen werden möchte. Unattraktiv und elend. Im Film blickt der Zuschauer in ihre Augen, in ein aufgelöstes, pures Gesicht und dahinter. Sie entblößt ihr Innerstes, während sie weint, schreit, verzweifelt stammelt. "Was habe ich falsch gemacht? Warum ich? Ich habe keine Kontrolle mehr. Zu wissen, dass mir meine Brust genommen wird und ich in den nächsten zwei Jahren keine Kinder kriegen werde." Der Zuschauer nimmt auch teil, wenn sich ihre Stimmung bessert, sie sagt: "Ich will ja leben" und die nächste Untersuchung sie wieder zu Boden wirft.
Warum filmt sich jemand in solchen Situationen? "Ich wusste, ich habe keine Chance, seelisch hinterherzukommen. Vielleicht wollte ich auch die Kontrolle über die Geschehnisse behalten." Kathrin Spielvogel, die bisher den Anweisungen anderer Regisseure folgte, versuchte nun Regie in ihrem eigenen Leben zu führen. Einem Leben, das, wie ihr der Krebs gezeigt hat, sich nicht kontrollieren lässt.
Es ging ihr darum, nachher das Erlebte besser verarbeiten zu können, wenn alles vorbei sein sollte. Das war ihr Plan. "Zum Glück wusste ich damals nicht, was mich alles erwartet." Das sei auch besser so gewesen.
Die Sache mit der Brust, das erwähnt sie immer wieder, war am Anfang das Schlimmste. "Ich hatte immer große Brüste, die gut aussahen und auch zu mir gehörten. Die Vorstellung, dass mir nun eine abgenommen wird, hat mich fertiggemacht." Im Film weint sie darüber, weiß aber, dass es getan werden muss. Keinen Ausweg gibt. Nach dem Schock und der Trauer folgt Ernüchterung, lebenserhaltender Pragmatismus.
Also suchte sie einen Arzt, der eine Methode benutzte, die ihr am ehesten entsprach. Er würde ihre Brust aushöhlen und sie in derselben Operation mit Gewebe aus ihrem Bauch füllen. "Auch wenn es keine richtige Brust mehr war, so würde doch alles da drin immer noch zu mir gehören."
So kam es nicht. Während der sechsstündigen OP stellte der Arzt fest, dass es zu schlecht um sie stand. Da insgesamt sechs Tumore gefunden wurden, die vorher nirgendwo zu sehen waren, und eine Chemotherapie auf jeden Fall folgen müsste. "Weil durch die baldige Chemo aber unklar war, ob das Gewebe aus meinem Bauch die Zeit hat, anzuwachsen, sollte ich ein Implantat bekommen." Ihre Eltern und ihr damaliger Freund entschieden für sie. Die andere Alternative wäre gewesen, ihr die Brust ganz abzunehmen. "Sie wollten nicht, dass ich erwache und keine Brust mehr habe, und dafür bin ich ihnen unendlich dankbar."
Sie war trotzdem geschockt. "Klar, ich habe kein Gefühl mehr in der Brust", sagt sie heute "aber ich kann alles tragen, sogar Bikini." In ihrem Film sieht man sie auch einmal im Bikini. Ein paar Monate nach der OP und während der Chemotherapie, die ein halbes Jahr dauerte. Zwischen den einzelnen Infusionen lagen jeweils drei Wochen. Sie bekam ein Angebot für einen Inga-Lindström-Film für das ZDF. Gedreht wurde in Schweden. Sie reiste an, mit Glatze. Für die Szenen bekam sie eine braune Perücke. Man habe ihr das alles sehr leicht gemacht. "Am Set waren alle sehr freundlich zu mir", sagt sie. Und obwohl sie eigentlich nicht wollte, dass man in der Branche über ihre Krankheit spricht, nahm sie das Angebot an. "Ich wollte das unbedingt, diesen Teil meines Lebens zurück." Die Szene im Bikini hat sie selbst gedreht. Für ihr Video-Tagebuch. Auch das Schöne hat sie festhalten wollen. Sie sitzt an einem See, das Wasser glitzert. Sie sonnt sich, ihren kahlen Kopf versteckt sie unter einem Tuch und sagt in ihre laufende Kamera: "Ich bin ganz happy, weil ich toll aussehe und Komplimente bekomme. Alles fühlt sich so neu an. Es geht bergauf. Alles ist so wertvoll. Obwohl ich nicht das Gefühl habe, dass alles so normal ist."
Der Dreh fiel zwischen ihre dritte und vierte Infusion der Chemotherapie. Sie sollte wieder tief fallen. Nach der vierten sagt sie in ihre Kamera: "Ich weiß gar nicht, wo ich hin bin. Ich habe das Gefühl, ich bin absorbiert worden von der ganzen Krankheit. Ich bin so brav geworden. Ich habe das Gefühl, ich muss ganz viel ändern. Und komme mir wie mein eigenes Krebsklischee vor. Wo hat mich die Krankheit hingebracht?"
Auch privat trägt sie jetzt ab und zu eine Perücke. "Vorher guckte mich niemand mehr an. Ich habe jetzt wieder Haare. Ich habe etwas Besseres verdient als diesen Scheiß Infusionsplan."
Während der fünften Chemo fielen ihr die Wimpern aus, auch die Augenbrauen. Sie spricht in die Kamera, während das Gift in ihrem Körper zuschlägt. "Mir ist übel, mir ist schlecht. Ich bin ein Chemomonster. Genauso fühle ich mich."
In dem Café in Winterhude sitzt das sprichwörtlich blühende Leben. Kein Vergleich zu dem kahlen, asexuellen Geschöpf, als das sie sich in ihrem Film fühlte. Sex, Berührungen, Frau-Sein, das war damals ganz weit weg von ihr. Ein faltenloser, nackter Mensch, mit einer großen Narbe an der Brust. Es ging nur darum, irgendwann wieder Mensch zu sein, gesund zu werden.
Nach der sechsten Chemo feiert sie und geht auf die Hochzeit einer Freundin: "Ich habe es geschafft", sagt sie im Cocktailkleid und sichtlich heiter, vielleicht sogar beschwipst in die Kamera.
Doch sie soll noch eine Strahlentherapie bekommen. Sie entscheidet sich auf eigenes Risiko dagegen.
Für ihre Familie und ihre Freunde gibt sie einen Thank-you-Brunch. Kathrin Spielvogel hält eine Rede, die alle berührt.
Der Film endet, kurz bevor sie zu einer Erholungskur fährt. Der letzte Eintrag. "Ich werde weiterleben, auch mit einer Brust, die ab ist."
Heute, drei Jahre später, ist fast alles wieder normal. Sie hat schon wieder Filme gedreht und ein Engagement am Düsseldorfer Theater angenommen.
Das ist der Beruf, aber von der Schwere der Krankheit ist noch einiges geblieben. Ein Freund sagte ihr vor Kurzem, dass sie sich in ein Schneckenhaus zurückgezogen habe. Sie benennt es anders: "Ich lasse die Dinge langsamer angehen. Wenn ich heute auf eine Party gehe, dann nur, wenn ich auch möchte. Nie mehr nur aus Verpflichtung." Weniger Druck, weniger Stress, das ist ihr Lebensmotto. Ihr neues.
Der Kellner kommt und fragt, ob sie noch etwas möchte. Ihre Stimme klingt hoch, und sie singt ihre Antwort fast: "I am fine."
Ein Jahr nachdem sie, während der Chemo, in die künstliche Menstruationspause versetzt wurde, setzte ihre Regel am Ostersonnabend 2007 wieder ein. "Ich war so überglücklich, weil ich Angst hatte, nie mehr Kinder bekommen zu können." Sie weinte eine halbe Stunde auf der Toilette.
2008 entstand der Plan mit dem Film. Genug Material gab es ja, zwölf Stunden Video.
Und obwohl sie in die Filmgeschichte nicht als die Krebsfrau eingehen wollte, hat sie den Film gemacht. "Weil ich ihn für wichtig halte", sagt sie. Schreiben hätte sie nicht können, der Prozess wäre nicht so unmittelbar gewesen.
Kathrin Spielvogel gilt im Moment als geheilt. Fünf Jahre, sagt man, müsse man abwarten, dann ist die Gefahr eines Rückfalls geringer. Aber man weiß es nie. Jeder Tag ohne erhöhte Werte verringert das Risiko neuer Metastasen. Ihr Film "Ich will ja leben, oder?" ist inzwischen für den Adolf-Grimme-Preis nominiert. Eine der wichtigsten und renommiertesten Auszeichnungen im deutschen Fernsehgeschäft.
Morgen wird sie erfahren, ob sie zu den Gewinnern gehört.
Und auch wenn sie es eigentlich nicht möchte: In diesem Film spielte sie ihre bislang größte Rolle. Die ihres Lebens.