Sie sind die Außenseiter. Weil ihr Schicksal ein anderes ist, als das der Masse. Berrin und Oliver Hellmann sind Eltern. Ihr Sohn Julius ist vier Jahre alt. Ein kleiner Kerl mit großen braunen Augen und kurzen lockigen Haaren. Er wäre circa einen Meter groß, wenn er aufrecht stehen würde. Doch Julius kann nicht stehen. Er kann nur wenige Worte sprechen. Julius bekommt Medikamente. Seine Nieren sind krank. Irgendwann wird er eine neue brauchen. Julius ist ein Junge mit Behinderung.
"Er ist gern auf dieser Welt", sagt seine Mutter. "Er lebt ein lebenswertes Leben." Dazu gehört ganz wesentlich, dass Julius in eine Kita gehen darf. Die Einrichtung an der Vizelinstraße in Lokstedt ist sein zweites Zuhause. Hier fühlt sich der Kleine wohl. Acht Stunden am Tag. Hier hat er seinen Kumpel Julian, seine Freundin Nejla.
"In der Kita lernt Julius den Umgang mit anderen Kindern, er wird gefordert und gefördert", sagt sein Vater Oliver Hellmann. "Er lernt das ganz normale Leben kennen", sagt seine Mutter Berrin. Genauso wie die anderen drei Integrationskinder in Julius' Gruppe. Sie alle werden - wie 1800 Kinder mit Behinderung in Hamburg - von der Erhöhung der Kitagebühren betroffen sein. Diese sollen, so sehen es die Sparpläne des Senats vor, drastisch angehoben werden. Galt bisher eine Pauschale unabhängig vom Einkommen, will die Sozialbehörde nun Gebühren nehmen, die auch Eltern nicht behinderter Kinder zahlen. Für Gutverdiener bedeutet das: 483 Euro statt bisher 31 Euro monatlich, Familien mit geringem Einkommen zahlen 55 statt bisher 31 Euro. Innerhalb von zwei Jahren sollen demnach 3,6 Millionen Euro zusätzlich eingenommen werden. Die neuen Beiträge könnten ab August gelten.
Für die Familie Hellmann bedeutet das einen Anstieg der Kita-Kosten um rund 1460 Prozent. "Das ist unverschämt", sagt Berrin Hellmann. Dabei geht es den Hellmanns gar nicht ums Geld. Sie gehören zu den Besserverdienenden. Und dafür arbeiten sie hart. Oliver Hellmann ist Controller bei einer Hamburger Softwarefirma, Berrin, studierte Juristin, war bis zur Geburt von Julius als Coach tätig. "Es geht uns darum, dass auf diese Weise erneut ein Stück Ausgrenzung stattfinden wird", sagt die Mutter. "Viele Familien werden ihre Kinder aus Kostengründen nicht mehr in die Kita geben." Das sei eine Katastrophe für deren Entwicklung.
Denn wie förderlich die Kita für ihren Sohn ist, erlebt Berrin Hellmann jeden Tag. Julius lacht, tanzt, klatscht und versucht sogar zu laufen. "Es geht ihm gut." Dass die 42-Jährige das sagen kann, grenzt an ein Wunder. Denn seine Ärzte hatten ihn bereits in den ersten Lebenswochen zweimal für tot erklärt.
Julius kommt am 26. Juli 2005 auf die Welt. Es ist ein heißer Sommertag, als Berrin Hellmann ins Uniklinikum Eppendorf eingeliefert wird. Sie ist in der 37. Schwangerschaftswoche. Eine Schwangerschaft ohne Komplikationen liegt hinter ihr. Doch plötzlich dreht sich die Situation. Fruchtwasservergiftung. Die Ärzte holen das Kind per Kaiserschnitt. Der Junge kommt auf die Neugeborenen-Intensivstation. Die Lunge ist noch nicht reif. Julius bekommt starke Medikamente. Sein Kreislauf bricht zusammen, er erleidet einen Herzinfarkt. Eine Niere versagt komplett. Julius kämpft gegen den Tod. Die Ärzte glauben nicht mehr daran, dass er es schaffen kann. "Aber wir haben immer an ihn geglaubt", sagt seine Mutter. Tag und Nacht ist sie bei ihrem Sohn. Drei Monate lang. Dann darf sie das Kind endlich mit nach Hause nehmen. Julius lebt. Aber er ist mehrfach behindert. Zwei Jahre lang wird er über eine Sonde ernährt.
Doch seine Eltern geben nicht auf. Nur das Beste wollen sie für ihren Sohn. Das betrifft auch seine Betreuung in der Kita.
In das "System Kinder" dürfe die Stadt, so Hellmann, nicht eingreifen. "Zumal der Senat gegen den Koalitionsvertrag verstößt." Darin heißt es: "Es soll geprüft werden, wie durch Anpassung der Gebührenstruktur Familien, die jetzt durch die Gebühren abgeschreckt werden, bewegt werden können, ihre Kinder in die frühe Förderung einer Kinderbetreuungseinrichtung zu geben." Die Hellmanns denken jetzt über eine Sammelklage nach.
"Wir kämpfen für Julius, seitdem er auf der Welt ist", sagt sein Vater. "Wir sind der Anwalt unseres Kindes." Wie sehr sich dieser Kampf lohnt, beweist Julius' Entwicklung. Er lernt zu schlucken. Er lernt Worte. Er lernt Laufen. Julius lacht, wenn er Spaß hat, er weint, wenn er traurig ist. Er ist ängstlich und neugierig. So wie die anderen Kinder in seiner Gruppe. Kinder, die Julius nehmen, wie er ist. Die keine Ausnahme machen und das Wort Außenseiter nicht kennen.