Eine Großstadt wie Hamburg ist oft schwer zu ertragen - laut, dreckig und durchzogen von sozialer Spaltung zwischen Arm und Reich. Gegenwärtig hat Hamburg aber ein anderes Gesicht: Die Kinder juchzen und bauen Schneemänner, und die Eltern ziehen begeistert Schlitten oder setzen sich sogar selber drauf. Auf der Alster tummeln sich alle Schichten unserer Gesellschaft und feiern ein Volksfest. Nur die älteren und gehbehinderten Menschen trauen sich nicht raus und sind in diesen Tagen an ihre Wohnungen gefesselt. Doch die meisten von ihnen genießen trotzdem die Schönheit der winterlichen Stadt. Mir kommt es so vor, als habe unsere große, bunte und vielfältige Stadt einen neuen Anstrich erhalten. Das Weiß des Schnees wird vergehen, wir wissen es. Aber wenigstens für eine kurze Zeit ist die Stadt leiser geworden, der Dreck der Metropole zugedeckt, und die sozialen Spaltungen scheinen unter der Schneedecke zu schlafen.

Normalerweise erleben wir unsere Stadt ganz anders. Da kämpft die Sehnsucht nach Lebensqualität mit den Interessen des Energieversorgers, der für eine Fernwärmeleitung unvorstellbar viele Bäume fällen möchte. Da ringt ein schmaler Fußweg mit einer vierspurigen Straße um Anerkennung, und da lebt der Obdachlose auf dem Weg, den der Jungunternehmer zur Party geht. Eine Großstadt ist eine Ansammlung von Widersprüchen und unversöhnten Gegensätzen. Die Stadt ist nicht unschuldig. Nicht umsonst hat die Bibel gerade Kain zum ersten Städtebauer erkoren, wurde er doch von Adam und Eva unmittelbar nach deren Vertreibung aus dem Paradies gezeugt. Ein Kind des Widerspruchs und der Zerrissenheit also. Er erschlägt seinen Bruder Abel, aber gleichzeitig sehnt er sich nach dem Schutz Gottes, den er auch erhält. Eine Stadt ist wie Kain: voller Abgründe und Widersprüche, aber gleichzeitig immer auf der Suche nach Glückseligkeit und dem heilen Leben - egal, ob in Kirchen oder Kinos, ob im Theater oder bei einer Schneeballschlacht.

Wie Kain sehnt sich vermutlich jeder Stadtbewohner nach einer heilen Welt, nach einer Stadt, in der sich in Frieden und Gerechtigkeit leben lässt ohne jede Spaltung und Zerrissenheit. "Hamburg ganz in Weiß" - vielleicht genießen viele Menschen diesen schönen Schein, weil sie hoffen: So müsste es auch in Wirklichkeit sein: so schön, so leise, so entspannt und ohne soziale Spaltung. Nur wärmer!

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