Der Krieg war vorbei, aber der Kampf ums Überleben ging weiter. Hunger hieß der neue Feind. Und dazu noch diese eisige Kälte.

Der Feuersturm war vorüber, der Krieg überhaupt. Mein Vater hatte den Endkampf um Berlin unversehrt überstanden, war nach nächtelangen Fußmärschen plötzlich bei uns in Lünzen, einem kleinen Heidedorf bei Schneverdingen, wieder aufgetaucht. Von dort kehrten wir im Oktober 1945 nach Hamburg zurück. Eltern, Geschwister und Fremde; auf einem alten klapprigen Lastwagen, beladen mit dem, was geblieben oder geliehen war.

Die Stadt sah trostlos aus. Wir hatten ihr furchtbares Brennen, den roten Himmel aus der sicheren Ferne des großelterlichen Hauses gesehen. Wenn wir wieder einmal vor dem Bombenhagel geflohen waren; oder aber vor den Nachstellungen der Männer mit den langen Ledermänteln.

Wir fuhren durch menschenleere dunkle Straßen. An Trümmerbergen vorbei ging es über Wilhelmsburg, durch die Veddel und Hamm zur Uhlenhorst. Wo früher Häuser standen, schaute man jetzt über eine unendliche Trümmerlandschaft vom Heidenkampsweg bis weit nach Barmbek; nur unterbrochen von ausgebrannten Häusern, deren Außenmauern stehen geblieben waren, die herausragten wie schwarze Zähne. Es mag unwirklich klingen, aber alle auf dem Wagen waren freudiger Stimmung, frohen Mutes, obwohl sie kaum wiedererkannten, was sie verlassen hatten. Die Männer sangen sogar. Ich vergesse das Lied nie: "Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, auf jeden September folgt wieder ein Mai."

Zwei Zimmer waren uns in der Wohnung geblieben, die meine Eltern einmal bewohnt hatten. Durch ein kleines Loch im Fenster blickten sie nun auf Ruinen, wo früher durch große Fenster und Türen der Blick auf gepflegte Villen und Gärten fiel. Alle anderen Fenster waren zugemauert oder mit Holz und Glaswolle vernagelt; sperrten so Licht und Kälte aus. Trotzdem waren sie glücklich und froh, wieder gesund zu Hause zu sein.

Es begann die schönste, die intensivste, die unvergesslichste Zeit meines Lebens. Ich denke an die Volksschule Schillerstraße - später in Winterhuder Weg umbenannt, weil es in Harburg auch eine Schillerstraße gibt - mit ihren beeindruckenden Lehrern. Sie selbst hatten nicht mehr als ein Klassenzimmer, in dem sie mit ihren Familien kochten und schliefen, froren wie wir.

An vielen Wintertagen saßen wir in unseren Straßenklamotten in kalten Klassenzimmern. Manchmal holten wir auch nur Schularbeiten ab, die wir zu Hause machen sollten; wo es allerdings genauso kalt war. Aber wir waren alle glücklich, dass Krieg und Bombenangriffe überstanden waren, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.

Unsere Lehrer mussten allerdings vieles vergessen, was sie bisher gelehrt hatten; nicht nur die Sütterlinschrift, die der englische Hochkommissar verbot, weil er und seine Kontrolloffiziere sie offenbar nicht lesen konnten. Ebenso Missingsch, das den neuen Aufpassern wohl eher wie eine Geheimsprache vorkam. Aus Grimms Märchen durfte erst vorgelesen werden, nachdem der Kulturoffizier jede Seite als unbedenklich gestempelt hatte.

Dafür wurden die neuen Saubermänner aber auch ordentlich verspottet, die die Adolphstraße umbenennen wollten, weil sie nicht wussten, dass sie nach dem Hamburger Kaufmann Adolph Jencquel benannt worden war - mit "ph" statt mit "f".

Ich erinnere mich an Paul Becker, einen vom Hunger gezeichneten Hünen, der jahrzehntelang an dieser Schule gelehrt hatte und nun aus Garmisch zurück war. Dorthin hatten sie ihn mit eltern- und obdachlosen Kindern aus Hamburg geschickt. Er schilderte uns in langen Stunden, wie die Uhlenhorst, Eilbek, Hohenfelde und Barmbek vor dem Feuersturm ausgesehen hatten.

Er hat uns Heimatliebe gelehrt, ja eingebläut. Noch heute kann ich die Uhlenhorst aus dem Kopf mit allen ihren Straßen zeichnen.

Ich denke voll Dankbarkeit an die täglichen Schulspeisungen, die wir singend und grölend anmahnten mit dem Lied: "Wir haben Hunger, wir haben Hunger, wir haben den ganzen Tag noch nichts gehabt" - was meistens stimmte und oft auch die einzige Mahlzeit des Tages blieb.

Und ich erinnere mich an die Heilandskirche neben der Schule, deren Gottesdienste wir jeden Sonntag besuchten; freiwillig ohne Stempelzwang. Pastor von der Fecht fuhr mit uns in die Harburger Berge. Dort trafen wir die "Roten Falken", die Jugendorganisation der SPD, mit denen wir abenteuerliche Geländespiele machten und nachmittags gemeinsam die Sennhütte erstürmten. Mit nicht viel mehr als ein paar feuchten Brötchen aus Maismehl in der Tasche, die so viel wogen wie ein kleines Brot - aus Siebkes Bäckerei am Hofweg. Die wurden am offenen Lagerfeuer geröstet - und jeder durfte abbeißen. "Unser täglich Brot gib uns heute" haben wir dabei gebetet und es zusammen mit Pastor von der Fecht ernst gemeint.

Wir wussten, wie man Fußbälle aus Plünnen macht. Damit sie möglichst lange hielten, spielten wir nur mit Knien und Füßen. Der Ball durfte nicht auf den Boden fallen. 20-mal und mehr schafften es die meisten, was heute hoch bezahlten Fußballern als Kunst angerechnet wird.

Spielten wir in den Pausen auf dem Schulhof richtig Fußball, in Ermangelung eines richtigen Balls häufig mit Blechdosen, sah man das den Schuhen an. Wenn die Glocke das Ende der Pause läutete, stellten sich die Klassen in Zweierreihen auf und wurden nacheinander wieder in ihre Klassenräume geführt.

Am Eingang stand manchmal Paul Becker und winkte jeden raus, dessen Schuhsohle vorne lose über den Boden schlurfte. Damals schoss man Tore noch mit "Pike", wie man beim Fußball die Schuhspitze nannte; und was den Schuhen natürlich überhaupt nicht bekam. Er machte uns im väterlichen Ton Vorhaltungen, welche Sorgen wir so unseren Eltern bereiteten, da es doch nirgendwo Schuhe zu kaufen gab. Dann schickte er die, von denen er wusste, dass zu Hause die Not besonders groß war, zu Schuster Harber am Hofweg. Dort war er schon vorher gewesen und hatte ihm ein paar kostenlose Reparaturen abgeschwatzt.

Hamburg war ja englische Besatzungszone. Und so gab es schon in den ersten Klassen der Volkschule Englischunterricht. Der fand in sogenannten Frühstunden statt, die um 7 Uhr begannen. Wir wetteten, wer am längsten in kurzen Hosen und ohne Strümpfe morgens in die Schule kam. Viele schafften es bis Ende November, sehr zur Erleichterung der Eltern. Denn lange Hosen waren noch nicht aufgerufen, was so viel hieß, es gab sie nicht zu kaufen. Gleiches galt für Schuhe. So hallte das Geklapper der Holzsandalen, von uns Klapperlatschen genannt, noch bis zum ersten Schneefall morgens durch die Schillerstraße.

Ecke Schillerstraße/Hofweg war eine Drogerie - der Inhaber unser Freund. Er steckte uns Salmis ohne Lebensmittelkarte zu. Die schönsten Süßwaren, die wir kannten - aus Ochsenblut hergestellt, wie in Kinderkreisen heimlich geflüstert wurde.

Im Winter 1946/47 wurde es sehr kalt; wir brauchten etwas zum Heizen. Die Straßenbäume waren längst alle abgeholzt. Zurück geblieben waren die Stubben. Mit Äxten und Schaufeln versuchten die frierenden Menschen, sie aus der Erde zu bekommen. Dazu waren wir mit unseren Kinderkräften natürlich nicht in der Lage. Aus nicht weiter nachgefragten Quellen hatte unser Drogerie-Freund noch Sprengpulver - wie wir es nannten. Davon gab er uns etwas fürs Holzbesorgen. Aber erst, nachdem er sich überzeugt hatte, dass wir recht schnelle Läufer waren. Das Sprengpulver haben wir in kleine Löcher gestopft, die wir mit Löffeln unter die Stubben gruben. Alte Schnürsenkel, die uns Schuster Harber überließ, haben wir angezündet in die gebuddelten Gänge gelegt und dann schleunigst die Beine in die Hand genommen; sind so schnell wir konnten davongerannt. Es gab einen gewaltigen Knall, und überall lag Kleinholz auf der Straße. Da die Udls, wie Hamburgs Polizisten von uns damals genannt wurden, noch zu Fuß unterwegs waren, kamen sie immer erst an, wenn wir mit dem eingesammelten Holz schon weg waren.

Bei Dependorf am Mühlenkamp ließen unsere Eltern alte Soldatenmäntel und Mützen färben. Die wir in Schwarz oder Braun - je nachdem, welche Farbe gerade vorrätig war - stolz trugen. Auch Wolldecken wurden eingefärbt und zu Kleidungsstücken umgearbeitet. So konnte uns auch der kalte Winter 1946/47 so lange kaum beeindrucken, wie wir uns draußen auf Straßen und Kanälen herumtrieben.

Wir spielten mit zurechtgeschnitzten Ästen Eishockey auf dem Hofwegkanal. Da kämpften Straßen und Stadtteile gegeneinander. Passanten standen am Geländer und feuerten die Spieler an. Abends ging es gleich ins Bett - mit einem warmen Ziegelstein, der in Papier gewickelt war. Packte man ihn morgens aus, waren die Innenseiten verkohlt.

Zum Pflichtunterricht gehörte Schwimmen. Im Bad Bartholomäusstraße mussten wir es lernen. Unser Sportlehrer hatte die Schneidigkeit der Vergangenheit noch nicht ganz abgelegt. Das Dach des Bades war zerstört, das Wasser so kalt wie draußen. Da wurde aber nicht lange gefackelt. Ein Schubs vom Beckenrand beendete die Bibberei und der kernige Ruf: "Jeder Deutsche ein Schwimmer, jeder Schwimmer ein Retter". Prustend und schluckend haben wir uns selbst gerettet, in dem wir plötzlich schwimmen konnten.

Wir klauten Altmetall aus den Ruinen, besonders Bleirohre waren gefragt, die wir dann verkauften. So manche Mauer in den zerbombten Villen auf der Uhlenhorst haben wir eingerissen, um an die Rohre zu kommen. Einmal hatte ich 500 Reichsmark zusammen. Meinem Vater wollte ich dafür Zigaretten kaufen. Ich ging auf den Schwarzmarkt. Der war am Mühlenkamp in der Peter-Marquard-Straße. Fünf Zigaretten habe ich für die 500 Reichsmark bekommen. Stolz schenkte ich sie meinem Vater, der mir nie verraten hat, was er in diesem Augenblick fühlte.

Vielleicht ist es auch gut gewesen, dass wir nicht alles verstanden, was damals passierte und unsere Eltern bewegte.

So verabschiedeten sie sich in aller Früh, zogen mit Rucksack und Taschen den Hofweg, die Papenhuderstraße, die Lange Reihe hinauf zum Hauptbahnhof. Denn es war nichts mehr zum Essen da. Sie versuchten, etwas "vom Lande" zu holen. Sie gingen bitten; vielleicht auch betteln? Wie schwer muss das für sie gewesen sein, die in ihrem Berufsleben schon so viel dargestellt hatten.

In dieser Zeit erfasste ich auch, warum meine Mutter uns bei Tisch die Brote selbst bestrich und dann jedem eine Scheibe auf den Teller legte. Sie und mein Vater klappten jedes Mal ihre Scheibe schnell zusammen und aßen sie "ohne was drauf".

Manchmal kamen die Eltern von ihren Hamsterfahrten abends nicht zurück, weil der Zug nicht fuhr oder sie nicht mitgekommen waren. Dann blieben wir eben auch nachts allein - acht, sechs und zwei Jahre alt. Ich machte den Ofen an, teilte die letzten Scheiben Brot auf, die die Eltern zurückgelassen hatten; fütterte meinen kleinsten Bruder und ging mit beiden zu Bett; in der Hoffnung, dass morgen die Eltern zurückkommen.

Tagsüber tobten wir drei mit den Straßenfreunden durch die Uhlenhorst. Mein Vater nannte uns Straßenjungs, was weniger nett, eher wohl recht besorgt gemeint war. Da der Kleinste noch nicht mitspielen konnte, wurde er im Kinderwagen am Straßenrand abgestellt. Eltern hatten keine Zeit, sich Sorgen zu machen, weil alle irgendetwas zu besorgen hatten.

Ein unerwarteter Schicksalsschlag ließ unser Familienleben dann doch wanken. Mein jüngster Bruder starb. Zu spät wurde erkannt, dass es Diphtherie war. Ärzte gab es wenige, und die waren nicht erreichbar. Der Tod kam schneller, als meine Eltern mit ihrem Kind auf dem Arm zu Fuß den Weg ins Eppendorfer Krankenhaus zurücklegen konnten. Den Kampf um unseren Bruder verloren die Ärzte dann dort, meine Eltern viel.

Trotz allem, das Leben ging weiter. Die Linie 18 der Straßenbahn fuhr wieder. Noch nicht als Alsterring, aber immerhin schon den halben. Wir konnten sie aber nur benutzen, wenn wir einen Groschen von den Eltern bekamen. Und das war sehr selten. Also fuhren wir schwarz oder im letzten Wagen hinten auf dem Puffer. Da konnte der Schaffner noch so viel schimpfen. Er kam während der Fahrt nicht an uns heran, weil die Fenster nicht zu öffnen waren. Wenn er die Notbimmel zog und der Fahrer daraufhin die Notbremse, sprangen wir ab und liefen davon, warteten auf die nächste 18. Diese Schlappen der Schaffner und der Spott der Fahrgäste sprachen sich herum; Schaffner schauten bald nicht mehr hin.

Manchmal wurden im Radio auch besondere Lebensmittel aufgerufen. Wer noch die dafür vorgesehenen Abschnitte auf seiner Lebensmittelkarte hatte, stellte sich morgens früh bei seinem Kolonialwarenladen an. Köpke hieß unser am Hofweg. Um 6 Uhr wurde ich dorthin geschickt, um einen vorderen Platz in der Schlange zu besetzen. Gegen 8 Uhr erschien meine Mutter und löste mich ab. Denn ich musste ja zur Schule.

Da hatte ich manchmal unruhige Vormittage. Denn die halbe Klasse stand dort morgens bis zum Schulbeginn. Wenn wir weg waren, unterhielten sich die Eltern über ihre Sprösslinge und deren Streiche. Mittags, wenn ich nach Hause kam, gab es manchmal böse Überraschungen, nicht selten sogar Stubenarrest.

So allmählich wuchs überall wieder Leben aus den Ruinen. Die Zeiten wurden besser, die Kreppsohle Mode und die Schulzeit ernsthafter. Aber nie werde ich diese intensive Zeit des Zusammenlebens mit Eltern, Geschwistern, Schul- und Straßenfreunden vergessen; den Wettkämpfen mit den Roten Falken und den Jungs anderer Straßen und Stadtteile nach Krieg, Feuersturm und Flucht.

Und auch nicht, wie sich alle Eltern abrackerten, um mit ihren Kindern wieder ein freies und sicheres Leben führen zu können. Dabei wollten sie nicht wahrhaben, dass es nicht ihr erster Lebensanfang war, den sie da kraftvoll angingen. Sie hatten schon einmal fürs Leben und ein zweites Mal fürs Überleben gekämpft.

Viel zu früh blieben mein Bruder und ich deshalb später mit unserer Mutter allein.