Offenbar haben wir Winter verlernt. Nach einigen milden und schneearmen Jahren hat keiner mehr das kleine Schnee-Einmaleins parat.
Hamburg. Wir sind noch einmal davongekommen, knapp am winterlichen Weltuntergang vorbeigerutscht. Dabei hatte noch am Freitag das bis dato unbekannte Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in dramatischer Weise gewarnt. Mit Blick auf den angekündigten Schneesturm empfahl deren Präsident Christoph Unter den Bürgern, sich für mehrere Tage mit Lebensmitteln einzudecken. Ausreichend Trinkwasser, ein Medikamentenvorrat und Kerzen sollten im Haus sein. Gut wäre auch ein batteriebetriebenes Radio. Und Autofahrer sollten unbedingt warmen Tee und Decken einpacken. Die Bonner können ihre Warnungen wieder drosseln. Es ist kein Weltuntergang, es ist nur Winter.
Dummerweise ist das bei einigen Kollegen in den Medien noch nicht angekommen. Weil man ganze Sondereinsatzkommandos in den Schnee geschickt hat, müssen diese ihre weiße Ware nun unters Volk bringen. Internetseiten und einige selbsterklärte Nachrichtensender und -sendungen setzen noch immer in Endlosschleife die schönsten Schneeverwehungen vom Wochenende in Szene. Munter schwadronieren Sprecher in ihren wohltemperierten Studios vom Schneechaos oder Eisdrama, vom Katastrophenwinter oder Jahrhundertjanuar. Auch sie können die erhitzten Gemüter inzwischen etwas herunterkühlen: Es ist kein Weltuntergang, es ist nur Winter.
Leider haben auch einige Hamburger die Abfolge der Jahreszeiten nicht mehr richtig parat. Freie Fahrt für freie Bürger in allen Lebens- und Schneelagen halten einige offenbar für ein grundgesetzlich verankertes Freiheitsrecht. Und Busse und Bahnen haben vermeintlich eine Pünktlichkeitspflicht bei jeder Wind- und Wetterlage. Als gestern beispielsweise meine U-Bahn ausfiel und sich damit die Wartezeit um fünf (!) Minuten verlängerte, rumorte es schon auf dem Bahnsteig. Dabei darf es Probleme geben, wenn es nachts taut und dann pünktlich zum Berufsverkehr wieder friert und schneit. Das ist kein Weltuntergang, das ist nur Winter.
Offenbar haben wir Winter aber verlernt. Nach einigen milden und schneearmen Jahren, verstärkt durch regelmäßige Warnungen vor dem Treibhauseffekt, hat keiner mehr das kleine Schnee-Einmaleins parat. Die cleveren Textilhändler haben schon die Frühjahrskollektion in ihre verschneiten Kaufhäuser geschoben - mit so bizarren Folgen, dass man in der Stadt vermutlich sogar eher das Bernsteinzimmer entdecken wird als einen fabrikneuen Schneeanzug für Kleinkinder. Die pfiffigen Autofahrer sparen sich schon lange den Reifenwechsel und rutschen nun auf Sommerreifen durch die Stadt. Und wenn sie dann ins Schlittern geraten, sind meistens die anderen schuld - allen voran die Stadtreinigung oder die Politik, dann die Sonntagsfahrer oder die Pinneberger. Früher fuhr man einfach früher los .
Längst ist der Winter keine Jahreszeit mehr, sondern gleicht einem überirdischen, allmächtigen Dämon. Die Deutsche Bahn, die seit Monaten in Berlin mit einer Pannenserie der S-Bahn kämpft, kann nun endlich dem Schnee die Schuld in die Schuhe schieben. Und auch wenn der Aufschwung lahmt, ist Väterchen Frost verantwortlich: Der DIHK warnt schon, das Wetter könnte der deutschen Wirtschaft den "Einstieg ins Wachstumsjahr 2010 gehörig verhageln".
Abrüstung an der Wetterfront wäre ein schöner Vorsatz für 2010. Die permanente Erregung, ob im Bundesamt für Bevölkerungsschutz, in den TV-Sendern oder beim DIHK geschürt, stumpft nur ab. Es ist nicht der Weltuntergang, es ist nur Winter.