“Da ist die Welt noch in Ordnung“ - das klingt arg nach einem Klischee. Doch in Ochsenwerder passt es einfach. Jens Meyer-Odewald und Fotograf Andreas Laible haben sich im Südosten der Stadt umgesehen.
So'n schoin Milchkaffee mit 'nem Lütten intus - das ist echt Labsal an einem unwirtlichen Dezembertag. Wenn die ersten Winterstürme über die Vier- und Marschlande hinwegfegen und es draußen am Brack schön matscht, wird es in Ochsenwerder gemütlich. Dann lässt Arne den Kamin in seiner Friesenstube knistern und fährt Nahrhaftes auf: Gänsekeulen, Grünkohl und ähnliche Schmankerln hoch oben auf dem Kaloriengipfel. Man rückt zusammen und genießt gemeinsam Geborgenheit.
Wenn es um menschliches Miteinander und um Nachbarschaft im ursprünglichen Sinne geht, sind sie im Südosten der Hansestadt unschlagbar. Wer "in die Stadt" fährt, meint traditionell Bergedorf. Sonst heißt es "nach Hamburg hin". Am Ochsenwerder Kirchendeich kennt jeder jeden. Was an sich noch nicht sehr viel besagt, weil die Straße mit den meist schmucken Häusern nur ein paar Hundert Meter lang ist. "Entscheidend ist die Qualität der Beziehungen", weiß Arne und entzündet die nächste Adventskerze. Kopfnicken am Tisch. Großer Worte bedarf es hier nicht. Und wenn einer "Moin!" sagt, ist viel gesagt.
Arne heißt mit Nachnamen Meyer, ist Wirt der Wein- & Friesentube am Ochsenwerder Kirchendeich 10 - und spricht aus berufenem Mund. Vor mehr als 130 Jahren lebte hier schon der Ururgroßvater. Und Arne stand bereits mit sechs Jahren an der Kasse des angegliederten Kolonialwarenladens. Den betrieb der Vater, im Ochsenwerder Volksmund "Bonsche-Meyer" genannt. Heute ist Arne Chef vom Ganzen und plant einen Ausbau des Saals um 200 Quadratmeter. Nicht schlecht laufen die Geschäfte, und speziell im Sommer ist der Dübel los am Elbradwanderweg nebenan.
Damit Arne nicht allein dasteht, hat er nachbarschaftliche Verstärkung organisiert. Alle sind per Du, welch Frage, und eh sich der Betrachter versieht, ist ein wundervoller Schnack im Gange. Wer hat wen am Sonnabend bei Bäcker Bahn gesehen? Wer kriegt welches Weihnachtsgeschenk? Wie ist der neueste Stand mit Rieges Gasthof? Der Festsaal steht seit "Jahrenden" leer, rottet vor sich hin, dient bisweilen noch als "Tatort"-Kulisse.
"Und als Heimat für den Adventsbasar", fügt Sanja Ballemo hinzu. Die Druckvorlagenherstellerin wohnt mit Mann Andreas und Sohn Erik seit ein paar Jahren am Kirchendeich, zählt mithin zu den Zugereisten und fühlt sich dennoch längst zu Hause. Für Sandra Witte gilt dies immer schon. Die plietsche Modedesign-Studentin ist am Ochsenwerder Kirchendeich 24 geboren und aufgewachsen, neuerdings jedoch gemeinsam mit Bruder, Schwägerin und kleinem Neffen in Nummer 35 ansässig. Typisch Ochsenwerderaner.
"Stimmt!", befindet Andrea Torres da Silva einen Sitzplatz weiter. Die Friseurin lebt mit Ehemann und drei Kindern in Nummer 41. Nicht weit entfernt von Apotheker Reinhard Heller ist das. Und Pastor Wolfgang Glöckner, nomen est omen, ist ohnehin allgegenwärtig. Dank des Glockengeläuts, dank des Herrn und dank seiner Persönlichkeit. Streng genommen ist die evangelische Kirche St. Pankratius am Alten Kirchendeich ansässig, doch zählt dieser irgendwie dazu. Finden alle.
Glöckner, der auch für die Gemeinde Moorfleet zuständig ist, genießt das Leben im ältesten Pastorat Hamburgs, einem Fachwerkhaus von 1634. An flutsicherer Stelle errichtet, offenbart sich der Pastorenfamilie ein wunderbarer Blick - direkt am Teich vorm Deich. Nach dem Gottesdienst gibt's Kaffee im Turmraum, und für Heiligabend studieren Kinder ein Krippenspiel ein. "Ochsenwerder hat Charme", meint Herr Pastor Glöckner. "Hier herrscht viel Frieden." Außerdem seien die Menschen füreinander da. Das Revier rund um den Kirchendeich sei unverändert von dörflichem Charme geprägt. Und das in der Großstadt: Mit dem Auto sind's 18 Kilometer bis zum Rathausmarkt; die Busse 124 und 120 erreichen Hamburgs Hauptbahnhof in 38 Minuten.
Arne lässt noch eine Runde Kaffee springen. Danach initiiert er eine lebhafte Diskussion: Was ist am Kirchendeich eigentlich so anders? Die Meinungen sind differenziert. Einige Beispiele. Es gibt einen Teich mit "Urwald". Nirgendwo anders sind die Häuser uriger. Fast jeder hat einen Fahnenmast vorm Haus. Oft kommen Filmteams zum Drehen. Das Heimatgefühl ist ausgeprägt. Die Dove Elbe ist 700 Meter entfernt. Die Kinder, ohnehin stark präsent, können im Sommer barfuß zwischen Bahndamm und Wildnis toben. Besonders wichtig: Der Ochsenwerder Kirchendeich ist mittendrin.
Auch wenn es in der ehemaligen Handwerkerstraße mit Schneider, Schuster und Uhrmacher kaum noch Geschäfte gibt. Gegen Ende des Abends wird der frühere Küster Günter Witthöft ins Gespräch gebracht. Der habe den Menschen am Kirchendeich die angeborene Fähigkeit zu drei Fremdsprechen attestiert: "erstens Hochdeutsch, zweitens Plattdeutsch, drittens "über annern Lüüt to snacken".