In der Goethestraße fing es an. Frauen können ihr Neugeborenes anonym abgeben. Sarah erzählt, welche Gefühle eine Mutter dabei hat.

Hamburg. Sarah war gerade Mutter geworden, als sie ihren Sohn Daryn im Juni 2008 in eine Babyklappe legte. Seit zehn Jahren gibt es jetzt in Hamburg das Projekt Findelbaby des Vereins SterniPark. Dort können Frauen Neugeborene anonym abgeben, wenn sie glauben, mit dem Aufziehen eines Kindes nicht fertig zu werden. Sie können ihr Kind innerhalb von acht Wochen zurückholen, und sie werden dort beraten, wenn sie es wünschen. Im Interview schildert Sarah, wie es dazu kam, dass sie ihr Kind in der Babyklappe ablegte, und warum sie ihr Kind wieder annahm. Heute ist Daryn 18 Monate alt, und die beiden leben zusammen.

Hamburger Abendblatt: Wann hast du gemerkt, dass du schwanger bist?

Sarah: Erst im fünften Monat. Ich bin trotz Pille schwanger geworden. Und von meinem Freund, dem Vater des Kindes, hatte ich mich getrennt.

Abendblatt: Wie hast du zu der Zeit gelebt?

Sarah: Ich war 18, wohnte noch zu Hause und war Auszubildende bei einer Bank in Hamburg.

Abendblatt: Wie bist du mit deiner Schwangerschaft umgegangen?

Sarah: Ich hab mir eingeredet, nicht schwanger zu sein, ich wollte nicht schwanger sein. Ich hab mir weite Kleidung gekauft und der Bauch war auch gar nicht so dick. Ich hab das komplett verdrängt. Wenn meine Mutter mich gefragt hat, ob ich schwanger bin, hab ich gesagt, dass ich Probleme mit dem Darm habe und dann hat sie auch nicht weiter gefragt. Und mehr konnte sie ja auch nicht tun, denn ich war ja schon 18.

Abendblatt: Warum hast du mit deiner Mutter nicht darüber gesprochen?

Sarah: Das konnte ich nicht. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Meinem Freundeskreis habe ich auch nichts gesagt. Außer der Geschichte mit den Darmproblemen.

Abendblatt: Und als der Geburtstermin immer näher rückte?

Sarah: Da hat mich mein Chef in der Bank zum Mitarbeitergespräch gerufen und hat mir dann erklärt – damals war das sehr plausibel für mich –, warum es nicht funktionieren kann: Ausbildung und Mutterschaft. Dem war völlig klar, dass ich schwanger bin. Das war zu einem Zeitpunkt, da wäre ich schon im Mutterschutz gewesen. Ich hatte juristisch keine Ahnung und habe dem Auflösungsvertrag zugestimmt. Wir hatten schon zu Beginn der Ausbildung, da war ich noch nicht schwanger, ein Seminar in der Bank. Der Seminarleiter hat uns auch gesagt, wir sollten während der Ausbildung möglichst nicht schwanger werden, das werfe ein schlechtes Licht auf uns junge Frauen.

Abendblatt: Haben deine Eltern nicht gemerkt, dass du nicht mehr arbeitest?

Sarah: Nein. Ich bin morgens aufgestanden und bin mit meiner Mutter zur Bahn gegangen. Sie fuhr ja morgens auch immer los. Nach zwei Stationen bin ich ausgestiegen und wieder nach Hause gefahren.

Abendblatt: Und die Geburt selbst?

Sarah: Da stand ich unter der Dusche, und die Wehen setzten ein. Dann ist die Fruchtblase geplatzt. Das war abends. Meine Eltern waren noch wach. Ich hab dann bis halb eins gewartet und einen Rettungswagen gerufen. Da waren meine Eltern schon im Bett. Auf den Rettungswagen hab ich auf der Straße gewartet. Als ich im Rettungswagen war, kamen die Wehen schon alle fünf Minuten. Und im Krankenhaus kam Daryn dann auf die Welt. Am dritten Tag nach der Geburt haben sie uns dann entlassen.

Abendblatt: Dann hast du mit deinem Sohn vor dem Krankenhaus gestanden. Und dann?

Sarah: Ich bin dann mit ihm herumgelaufen. Nach Hause konnte ich ja nicht. Er bekam Hunger, da habe ich ihn gestillt, und er hat sich verschluckt. Da hab ich einen Schreck bekommen und dachte, er ist krank. Ich bin mit ihm ins Kinderkrankenhaus gefahren. Dort wurde er dann aufgenommen. Ich bin dann immer für ein paar Stunden nach Hause gefahren und hab meinen Eltern erzählt, ich fahre zu einer Freundin, bin aber zu ihm ins Krankenhaus gefahren.

Abendblatt: Und war er krank?

Sarah: Nein, war er nicht. Nach einer knappen Woche wurde er entlassen. Und da hab ich ihn in die Babyklappe in der Goethestraße gelegt. Ich wollte ihn ja eigentlich behalten, aber brauchte Zeit, um die Dinge zu regeln. Ich hatte ja kaum Zeit gehabt, mich auf das Baby vorzubereiten. Ich hatte es ja verdrängt. Das, was normalerweise während der Schwangerschaft hätte geschehen sollen, dafür brauchte ich die Zeit. Auch mit meiner Mutter zu reden. Und von der Babyklappe wusste ich, dass ich mich dort melden kann, in der gesetzlichen Frist.

Abendblatt: Welche Gefühle hattest du, als du ihn in die Klappe gelegt hast?

Sarah: Ein schlechtes, ich hab gedacht, ich bin eine schlechte Mutter. Aber ich brauchte dieses Zeitfenster, um das mit meiner Mutter und meiner Familie zu regeln.

Abendblatt: Und warum wäre das nicht mit dem Baby gegangen?

Sarah: Ich weiß es nicht. Ich wollte niemanden enttäuschen.

Abendblatt: Hast du darüber nachgedacht, Daryn auszusetzen?

Sarah: Nein, das wäre ja viel zu gefährlich gewesen. Das Risiko, dass ihm etwas passiert, wäre viel zu hoch.

Abendblatt: Hast du dann deiner Mutter alles erzählt?

Sarah: Nein, das brauchte ich gar nicht. Als ich nach Hause kam, hatte sie einen Brief vom Krankenhaus geöffnet, der an mich adressiert war. Das war so ein Willkommensschreiben nach dem Motto, wir freuen uns, dass Ihr Sohn auf die Welt gekommen ist. Meine Mutter hat einen Riesenschreck bekommen, weil ich das Baby ja nicht bei mir hatte. Und da hab ich ihr alles erzählt. Wir haben dann bei Findelbaby angerufen und dann haben wir ihn immer wieder besucht. Natürlich hat meine Mutter gesagt, dass sie das nicht so toll findet, dass ich mit 18 Mutter bin. Mit den Findelbaby-Mitarbeitern habe ich dann gesprochen, und wir haben eine Lösung gefunden. Ich bin in ein Mutter-Kind-Heim in Hamburg gezogen. Nach fünf Wochen kam Daryn dann auch. Seitdem leben wir dort.

Abendblatt: Und wie war das am Anfang, der Umgang mit deinem Sohn?

Sarah: Ich hatte erst Angst, es nicht zu schaffen. Und noch mehr Angst davor, dass er mich als Mutter nicht akzeptiert. Aber alles unbegründet. Hat alles gleich gut geklappt.

Abendblatt: Hast du eine Perspektive?

Sarah: Ich habe wieder eine Ausbildung begonnen, zur Bürokauffrau. Daryn ist acht Stunden in einer Kita. Noch wohnen wir im Mutter-Kind-Heim. Innerhalb der nächsten Monate möchte ich mir gern eine eigene Wohnung suchen und dann mit ihm dort leben. Einmal im Monat schläft er am Wochenende bei meiner Mutter. Das ist dann mein freier Abend.

Abendblatt: Du hättest auch die Möglichkeit gehabt, dich ans Jugendamt zu wenden. Warum hast du das nicht gemacht?

Sarah: Das ist ein Amt. Die machen bestimmt gute Arbeit, aber ich dachte, bei einem Amt wird es schwerer, wieder Kontakt zu meinem Kind aufzunehmen. Man hat immer im Kopf, die nehmen einem das Kind weg, weil sie dich für eine schlechte Mutter halten.

Abendblatt: Wie ist deine Situation heute mit deinen Eltern?

Sarah: Gut. Eigentlich besser als vorher. Daryn und ich sind oft am Wochenende dort. Und dann verwöhnt meine Mutter mich, will mir was Gutes tun und ihrem Enkel natürlich auch.

Abendblatt: Und wie hat dein Freundeskreis reagiert?

Sarah: Da sind nur wenige geblieben. Das hängt aber auch damit zusammen, dass der Vater von Daryn und ich den gleichen Freundeskreis hatten.

Abendblatt: Du hast die Entscheidung des Ethik-Rates gehört. Der Rat stellt sich gegen die Babyklappen.

Sarah: Das verstehe ich nicht, das entscheiden die, obwohl die überhaupt nicht wissen, wie man sich fühlt, was in einem vorgeht. Keiner von denen war in solcher Situation.