Worum in Deutschland gestritten wird, ist in Paris bereits Realität. Vanessa Seifert hat sich per Mausklick auf eine virtuelle Rundreise durch die Stadt der Liebe begeben.
Voilà, der Triumphbogen ist nah! Jedenfalls näher als ein Überleben im Pariser Stadtverkehr. Auf den Champs-Élysées, dieser achtspurigen Prachtstraße, ist der Verkehr dicht gedrängt. Links schlängeln sich Mopedfahrer in dunklen Jacken und mit schwarz-roten Helmen vorbei, rechts schiebt sich ein lindgrüner Doppeldecker-Bus, bis unters offene Dach voll besetzt mit sonnenbebrillten Touristen, in Zeitlupentempo vorwärts. Einige Meter weiter parkt ein kleiner dunkelblauer Peugeot unfreiwillig mittendrin in diesem Stau. Der Fahrer, ein Herr mit hellem Haar und ebensolchem Hemd, dreht schon mal seinen Oberkörper aus dem Fenster Ist es bei diesem Höllenverkehr möglich, den Triumphbogen zu erreichen, ehe sich der blaue Himmel nächtlich gefärbt hat? Na klar, wir machen es ja schon lange: einfach fahren - und zwar mit der Maus über den Bildschirm, 750 Kilometer entfernt.
Vergessen ist das Taxi nach Paris. Oder Hinweise, die auf so romantische Erblasten wie Papier gedruckt sind: "Laufen. Viel laufen. Das ist immer noch die allerbeste Art, in Paris auf Entdeckungsreise zu gehen", ist so ein Ratschlag aus Marco Polos Zeiten. Heute wissen wir: Die Welt ist Google. Und die persönliche Tour de France ist in Stöckelschuhen möglich. Sitzend, vom Schreibtisch aus. Denn der Suchmaschinengigant aus Kalifornien hat seinen Online-Kartendienst um die Funktion "Street View" erweitert. Als eine der ersten europäischen Metropolen ist eben auch die französische Hauptstadt verfügbar. Dorthin geht es jetzt für einen kleinen Frühlings-Städtetrip. Billiger als mit jeder Fluglinie. Und schneller.
Schon stehen wir an der Rue des Pyramides. Aha! Ein roter Schriftzug weist auf das Informationszentrum für Touristen hin, das gleich hinter uns liegt und rein zufällig mit Google zusammenarbeitet. Aber einen Stadtplan braucht der digitale Weltreisende nicht, den hat er schließlich immer dabei, unten rechts in einem kleinen Fenster. Kehren wir also ein in das Straßencafé Le Royal Opéra. Die Korbstühle an den kleinen Bistro-Tischen sind fast alle belegt. Aber wer bemerkt schon, dass wir uns virtuell kurz dazusetzen? Zu der jungen Blondine im pink-roten Blümchenkleid, die sich offensichtlich einen Café au Lait bestellt hat. Oder zu dem Paar, er im dunklen Anzug, sie im langen Kleid. Sie lässt ihn gerade von ihrem Essen kosten. Herrlich! Paris, eine Stadt träumt von der Liebe! Und die ganze Welt darf mitträumen.
Auch wenn diese eingefrorenen Momentaufnahmen und ihr menschliches Inventar zum Albtraum werden können. Wie für die junge Britin, die das Haus ihrer besten Freundin ausspähen wollte und einen Landrover vor dem Haus stehen sah - den sie aus der eigenen Garage kannte. Ihr Mann hat dann abends den Seitensprung gebeichtet und ein paar Wochen später in die Scheidung eingewilligt. Aber das ist London, nicht Paris.
Lustwandeln wir im Schnelldurchgang über die Avenue de l'Opéra. Oh, die kleine Boutique an der Ecke macht Ausverkauf. Designermode zum Grabbeltisch-Preis. Nicht schlecht, das kleine Schwarze im Schaufenster. Zoomen wir noch mal ein bisschen ran. Müsste man anprobieren. Ist es doch ein Nachteil, nicht leibhaftig vor Ort zu sein? Na ja, in die Warteschlange vor dem Louvre will man sich nicht einreihen: Japaner mit ihren Kameras, leicht übergewichtige Frauen in Shorts und weißen Turnschuhen (wahrscheinlich Amerikaner). Es würde zu lange dauern, das Museum zu betreten. Aber der Da-Vinci-Code ist ja ohnehin schon gelöst. Scrollen wir uns kurz rüber ans Ufer der Seine: Der Himmel ist hier etwas dunkler, wie an einem ganz anderen Tag. Ein Paar, das sich für die Erkundungstour durch Paris nicht nur für farblich korrespondierende Windjacken, sondern auch für das gleiche weiß-türkisfarbene Leihfahrrad entschieden hat, schaut etwas planlos in den Stadtplan. Das wiederum ist das Gute an der virtuellen Reise: Man muss keinen Franzosen um Rat fragen - in englischer Sprache vorgetragene Begehren werden gern mal überhört. Aha, an der Uferpromenade ist ein Jogger unterwegs. Ganz seltsamer Laufstil, fast ein bisschen x-beinig. Machen wir Tempo und klicken uns rüber zum Wahrzeichen schlechthin, zum Eiffelturm. Auch eine lange Schlange davor. Aber, wie sich bei näherem Betrachten zeigt, nur vor dem Eiswagen, der an einen Jeep angehängt ist.
Plötzlich ist die Reise vorzeitig beendet. Das Programm hat sich aufgehängt und damit dem Spaziergang eine Pause verordnet. Allerdings müssen wir auf das ofenfrische Baguette verzichten, das das wahre Paris bieten würde. Also noch mal von vorne. Nähern wir uns dem Triumphbogen von einer anderen Seite. (Man kennt sich jetzt aus, ist schließlich schon die zweite Paris-Reise.) Oh, das sieht aus wie ein Unfall. Vergrößern. Tatsächlich ist ein silberner Mercedes mit einem weißen Opel zusammengestoßen. In der Nebenstraße sieht es kaum besser aus: Da latscht ein junger Mann in Jeans und T-Shirt über die Straße, an den fahrenden Autos vorbei. Ist der lebensmüde? Oder auf den Spuren von Ulrich Wickert, der sich einst als Paris-Korrespondent munter durch den Verkehr am Place de la Concorde moderierte.
Dagegen ist so ein virtueller Stadtrundgang weit weniger gefährlich. Und sehr diskret (schöne Tigerkatze, da oben auf dem Fensterbrett). Für Hamburg wäre so eine 3-D-Ansicht auch nicht schlecht. Nur die Straße, in der ich wohne, die könnte man vielleicht rauslassen.
Bon voyage!