819 Jahre wurde der Hamburger Hafen alt. Vier Tage lief ein Fest, das Spaß machte wie selten. Abendblatt-Reporter entdeckten 14 Geschichten, alle haben - wie kann es anders sein - mit Küste, Wasser, Wind und Wellen zu tun.

Ebbe und Flut Kommen und Gehen. Im Sekundentakt. Die Gezeiten eines besonderen Geburtstags. Der Hafen schläft nie. Aber wenn er feiert, dann werden Hunderttausende Gratulanten angespült. Aus Wien, Würzburg, Wetzlar. Und aus der ganzen Welt. Heimathafen Hamburg. Uwe Kreuziger (67) begrüßt auf Brücke 10 die, die anlegen. Und winkt denen auf Wiedersehen, die ablegen. Jedenfalls, wenn die Gäste mit den Barkassen der Circle Line fahren. In den Augen der Ankommenden spiegele sich die Vorfreude, die Lust auf Abenteuer, die Hoffnung auf eine gute Zeit. In den Augen der Abfahrenden sehe er das "Glück, etwas Schönes erlebt zu haben".

Manchmal aber auch enttäuschte Erwartungen. Weil der Flirt am Bierzelt gefloppt ist. Oder weil die Warteschlange vor der "Sedov", dem schnellsten Großsegler der Welt, zu lang war. Die meisten Besucher lassen sich einfach treiben, sagt Kreuziger. Vielleicht bis in die BallinStadt. Dorthin, von wo zwischen 1850 und 1934 fünf Millionen Menschen zu neuen Ufern aufgebrochen sind. Manche sind in der Neuen Welt nie richtig angekommen. Haben die Heimat vermisst, sind zurückgekehrt in den Hafen der Geborgenheit.

Die Sehnsucht nach Hamburg ist manchmal groß - auch wenn das Zuhause in Hessen liegt - wie bei Gisela (60) und Norbert Lehmann (65): "Zum Hafengeburtstag reisen wir an." Was fasziniert? "Der Trubel", sagen sie. "Dieses Kommen und Gehen."

An Deck Ein Schiff reicht. Nicht, weil Holger Meyer und Tochter Paula es so wollten, es ist einfach zu anstrengend. Sie waren bereits auf einem Schiff des Küstenschutzes, darauf zu kommen, war beschwerlich genug. Das Problem sind die Menschenschlangen. Und Holger Meyer hat es nicht geschafft, seiner dreijährigen Tochter zu erklären, dass Warten an sich auch etwas Schönes sein kann. "Dann freut man sich, wenn man endlich an Deck ist", sagt er. Die beiden sitzen jetzt in einer Gondel vom Riesenrad. Dort gab es nur eine kleine Schlange. Und für Paula ist der Hafengeburtstag eh nur Mittel zum Zweck, um auf die Karussells zu kommen. Der Ausblick von hier oben ist fantastisch, alles bewegt sich unten, und Paula wird langsam ein bisschen kleinlaut, vielleicht schüchtert sie die Höhe oder das Hafen-Miniaturwunderland unter ihr nun doch ein bisschen ein. Ihr Vater fragt: "Paula, möchtest du vielleicht doch lieber eine Bratwurst?" Paula nickt.

Unter Deck Die Luft ist stickig, es riecht staubig . Durch Sicherheitsschleusen hindurch und fünf steile Treppen abwärts, kommen wir zum Maschinenraum der Fregatte "Mecklenburg-Vorpommern". Der Maschinist, ein junger Mann, zeigt seiner Freundin gerade seinen Arbeitsplatz. Es ist Open-ship-Tag, und die Crew darf ihren Angehörigen zeigen, wo sie arbeitet und lebt, wenn sie auf See sind. Fotos dürfen wir von ihm nicht machen, er ist in Zivil. Ein anderer, nicht in Zivil, Obermat Henning Grotegut (22), führt uns noch zwei gefühlte Etagen tiefer in den Gasturbinenraum. Er beobachtet die Geräte, auch an einem Tag wie Hafengeburtstag. "Das Schiff versorgt sich selbst mit Energie, und ich beaufsichtige das", sagt er. Die Gänge sind schmal, die Maschinen wuchtig. Man hört ein Dröhnen. Er hat sich für acht Jahre bei der Bundesmarine verpflichtet. Er war schon in Schottland und England mit der "Mecklenburg-Vorpommern". Er will die Welt sehen, rumkommen. Von hier unten. Manchmal sieht die Mannschaft drei bis vier Wochen kein Land. Ob er mal kurz mit hoch komme, fragen wir ihn. "Nee", sagt er, "habe doch Dienst".

Seemannsgarn Sagenhaft sind die Geschichten. Von Monsterwellen, von Monsterwinden. Sergej Rjbyy (18), Matrose auf der "Kruzenshtern" (früher Padua) kann sie erzählen. Die anderen 181 Crewmitglieder auch. Vielleicht macht der ein oder andere sogar eine noch größere Welle. Aber wen stört das schon? Es könnte doch wirklich passiert sein...

Die "Kruzenshtern", Schwesterschiff der 1957 gesunkenen "Pamir", ist seit ihrem Stapellauf (24. Juni 1926) durch viele Gewässer gefahren. 1942 soll Hans Albers am Ruderrad gestanden und "La Paloma" geschmettert haben. Singen kann Sergej nicht. Aber stolz am Ruderrad steht er trotzdem.

Manchmal sind die Geschichten auf kleinen Schiffen am größten. Frank Dressler (45) aus Wellingsbüttel bringt als Barkassenführer Touristen sein Hamburg näher. Vom Wasser aus. "Klar, erzähle ich schon mal Unfug", sagt er. Weil es einfach Witze gebe, die sich nie totlaufen. Beispiel? "Ich sage immer: Auf den Michel dürfen keine Schwiegermütter rauf. In Hamburg herrscht nämlich Flugverbot für Drachen." Gelächter. Na ja, und bei den Größenangaben der Containerterminals würde der ein oder andere Kollege vielleicht auch ein bisschen übertreiben. "Ich bin Entertainer", sagt Dressler. "Das Leben ist bunt."

Fernweh Vor der Überseebrücke steht er und singt. Mit Gitarre und Verstärker. Tatsächlich "Aloha Oe " von Freddy Quinn. So was wie "Hawaii, wer weiß, wann ich dich wiederseh". Der Sänger hat einen Bart und ein blau-weiß gestreiftes Hemd an, er heißt Manfred Allonge, ist 68 Jahre alt, in Rente und ist in den 50er-Jahren mal zur See gefahren. 22 Jahre arbeitete er später im Hamburger Hafen als Berufsfeuerwehrmann. Er singt von der Karibik, von schönen Frauen und schönen Stränden. Und dem Meer. Vier Tage lang war er mal in Trinidad Tobago während des Karnevals. Vier Tage Party und Calypso. Tanzen und die Menschen dort. "Alle sind so freundlich", erklärt er zwischen zwei Liedern. "Dort möchte ich eigentlich leben." Hier ist ihm zu kalt, er lebt in der Dorfrepublik Rüterberg, vor sechs Jahren ist er hingezogen. Er singt wieder mit einer klaren Stimme, einer Mischung aus Reinhard Mey und Achim Reichel, Sehnsucht und Erfahrung im Kehlkopf. Er träumt vom 27 Grad warmen Meer auf Cuba. "Habe die Welt gesehen von Singapur bis Aberdeen... Ich habe das Paradies gesehen. Alpha heja." Die Windjammer ziehen gerade im Hafen vorüber und bringen das Fernweh mit. Sie ziehen vorüber und nehmen Manfred Allonges Träume mit.

Heimweh Heimweh gibt man nicht gerne zu. Es scheint irgendwie unprofessionell. Der erste Offizier und stellvertretende Kommandant der Fregatte "Mecklenburg-Vorpommern" kann es sich wohl aufgrund seines Dienstgrades leisten, diese Schwäche einzugestehen. Er steht auf der Brücke, von dort aus er alle Entscheidungen über das Schiff trifft. Ivo Schneider ist ein großer Mann, einer, der Befehle gibt, Prinzipien hat, der für seine Mannschaft Vorbild ist. Heimweh oder Gefühle würden den Betrieb nur stören, sind individuell. Deswegen bleibt jeder damit für sich. "Früher", erklärt er, "hieß Heimweh auch Soldatenkrankheit." Weil nur die Soldaten im 19. Jahrhundert wirklich lange von zu Hause weg gewesen seien. Er ist 39 Jahre alt, seit 21 Jahren ist er bei der Marine und erfahren im Wegsein. Er hat eine Frau und ein Kind, das er nicht richtig aufwachsen sieht. Manchmal ist er für mehrere Monate weg. Dann schreibt er jeden Tag E-Mails. "Mein E-Mail-Account", sagt er, "führt Tagebuch über mein Heimweh." Er vermisst das Licht seiner hellen Wohnung, in seiner Kabine hat er kein Fenster. Er vermisst die Blumen, die seine Frau für die Wohnung kauft. Er ist traurig, wenn er ihr nicht helfen kann. Er fühlt sich verantwortlich für die beiden und ist doch meist nicht da. Manchmal, während eines Einsatzes, ist das Telefonieren verboten, dann fehlt ihm die Stimme seiner Frau. Auf seinem Laptop hat er Fotos von ihr. Eines zeigt sie lachend mit Blumen im Arm.

Alle Mann an Deck Eine Seefahrt, die ist lustig. Meistens. Manchmal ist einem Passagier aber auch nur noch zum Heulen zumute. Wie dem kleinen Alexander (6) aus Iserlohn. Mit Mutter Renate und Bruder Max hat er sich an den Landungsbrücken auf die Fähre Richtung Övelgönne gewühlt. Das Wettwriggen im Hafenbecken wollen sie sich dort anschauen. Bloß Papa Dieter hat es nicht geschafft. Er steht am Ufer und blickt der Fähre nach. Alexander weint. "Wir haben den Papa verloren", ruft er und klammert sich an seine Mutter. "Mama, was passiert jetzt mit Papa?", fragt er.

"Keine Sorge", sagt die Mutter. "Er nimmt einfach das nächste Boot." Manchmal läuft es im Leben eben wie beim Wettwriggen. Einer kommt später ins Ziel als die Anderen.

Labskaus "Labskaus gibt's hier nich", sagt die Frau vom Maisstand. Liebels Spezialitäten heißt dieser eine von über hundert Ständen auf dem Hafengeburtstag. "Bei der Hitze", sagt sie, "würde der Fisch zu schlecht werden". Außerdem mag sie keinen Rollmops. Außer Mais gibt es hier auch Steak im Brötchen. Das Geschäft läuft gut. Der perfekte Mais, wie dieser, kommt aus Californien, wird in Wasser gekocht, und mit Butter, Pfeffer und Salz bestrichen. Am nächsten Wochenende arbeitet sie auf dem Fuhlsbütteler Straßenfest. "Die Fuhle bebt", sagt sie. Noch mehr als der Hafen? "Wird schwer."

Volle Fahrt voraus Hin und her, hoch und runter schaukelt das Schiff. So schnell, dass die Passagiere die Augen schließen müssen. Und schreien. Vor Vergnügen. Für jeweils drei Euro haben sie auf dem "Fun-Schiff" eingecheckt, einem Fahrgeschäft. Wenige Minuten dauert die Seereise in den Himmel. Dann haben die Fahrgäste wieder wackeligen Boden unter den Füßen. War's eine Traumreise? "Absolut. Der perfekte Start in einen Abend, der hoffentlich genauso abgeht", sagt Jan Tzschichold (18). Aus Berlin ist er angereist, um mit Freundin Milica Cecar (19) aus Horn und Kumpel Pito (18) den Hafengeburtstag zu feiern. Für die Freunde Rico Meyer (22) und Marc Heinrich (24) aus Bremen war es dagegen die letzte Fahrt. "Wir wollen nur noch ins Bett. Haben schon seit heute morgen Vollgas gegeben - am Bierzelt."

Rum muss, Zucker kann, Wasser braucht nicht "Stößchen!" Ein junger Mann in weißen Shorts fotografiert seine Freundin, die sich gerade mit einer anderen zuprostet. Prosecco mit Erdbeeren. Bei der Hitze. An den Erdbeeren kommen nur wenige vorbei. Die Kombination soll aphrodisierend wirken, verspricht der Wirt. "Wie aphrodisierend kann sie dir ja morgen erzählen", sagt der junge Mann und greift seiner Freundin an den Po. Wenn das nicht reicht, an dem Stand gibt es auch noch Vodka-Feige. Rum? Fehlanzeige.

Seekrank Es kommt in Wellen. Über Tag geht es um die, die zu wenig getrunken haben. Am Abend um die, die zu viel getrunken haben. "Nach dem Feuerwerk knallt es richtig", sagen die Einsatzleiter Frank Bieger (34, Johanniter) und Sven Kessler (38, DRK). Wenn bei manchen Gästen die Zunge schwer wird und die Fäuste leichter. Wenn die Grenzen verschwimmen, nach Fluten von Alkohol. Wenn die Flaschen fliegen. Dann müssen sich die 60 Sanitäter kümmern, um Platzwunden und Schnittverletzungen. "Es ist jedes Jahr gleich", sagt Bieger. Nicht schlimmer, nicht besser. Seit zwölf Jahren ist er beim Hafengeburtstag im Dienst. Aus seinem ersten Jahr erinnert er sich an einen Bäcker, der mit der rechten Hand in der Backmaschine hängen geblieben ist. Keine schwere Verletzung, "aber es hat dramatisch ausgesehen." In diesem Jahr hätten sich viele blenden lassen - vom Sonnenschein. "Viele haben die Hitze unterschätzt. Bis der Kreislauf gestreikt hat." Manchmal sofort, manchmal in Wellen.

Mast- und Schotbruch Es hätte ein Untergang werden können. Wirtschaftlich. Viel Regen hätte null Umsatz bedeutet. Jedenfalls für Saed Hidik (46). Der Mann verkauft Brillen, Sonnenbrillen. Bei strahlenden 26 Grad Celsius finden sie reißenden Absatz - auch wenn manche Kunden "vergessen zu zahlen." Aber Diebe seien auf solchen Volksfesten immer unterwegs. "Das Glück über das schöne Wetter überwiegt", sagt Hidik. Und spricht damit auch für die anderen Händler. Der Umsatz stimmt. "Wir sind quasi von der Sonne geküsst."

In jedem Hafen eine Horden von jungen Männern in Shorts und T-Shirts mit eindeutigen Botschaften "Kommst du heut nicht, kommst du morgen" versuchen ihr Glück in der Menge. Hätten sie weniger Bier getrunken, ginge vielleicht was. Eine Menschentraube hat sich um den Jägermeisterstand gebildet. Wie Ochsen vor der Tränke. Ist es der Jägermeister im Reagenzglas, der hier angeboten wird oder die Promoterinnen, die das Jungsvolk anziehen? Die Frauen tragen enge orange-farbene T-Shirts und sehen toll aus. Die schönsten Frauen auf dem Hafengeburtstag. Sie werden angehimmelt. Es wird geguckt. Die Schönen flirten. Leider, alles nur fürs Geschäft und nur für den Moment. Im wahren Leben sind die drei hinter der Theke Zahnmedizin-Fachangestellte, Studentin und Vertreterin. Der Freund von Mike und Chris, die sich hier bedienen lassen, will nicht mit aufs Foto. Seine Freundin weiß nicht, dass er auf dem Hafengeburtstag unterwegs ist.

Alles klar zur Wende Die Party spitzt sich zu. An der Kehrwiederspitze, wo sich das Partnerland Finnland mit Handyständen, Saunen und Weihnachtsmann (soll in Finnisch-Lappland leben) präsentiert, ist das Ende der Feiermeile. Umkehr ist angesagt, Richtungswechsel.

Und, wie war der 819. Hafengeburtstag? "Einmalig", sagt Thomas Korzeniowski (43), der mit Ehefrau Sabine (42) und Sohn Steven (10) aus Bielefeld angereist ist. "Eine Stadt am Wasser ist einfach etwas Besonderes", sagen die Freundinnen Inge Polzer (65) und Carola Arend (66) aus dem Saarland. "Es hat Spaß gemacht", sagt Birgit Steinbach (43) mit den Söhnen Christian (11) und Michael (15). Für sie steht heute wieder ein Richtungswechsel an: Es geht in den Süden - heim nach Stuttgart.