Teure Medikamente verordnet und abgerechnet, aber nicht verkauft. Allein eine Versichertenkarte wurde dazu 900-mal missbraucht.

Hamburg. Der Mann, den sie "Kommissar Keller" nennen, liest oft Rezepte. Medikamente stehen da drauf, die auch ihm manchmal neu sind, obwohl er als Spezialist bei der Techniker Krankenkasse (TK) arbeitet. Ärzte, die sie verschreiben, bürgen mit ihrem Namen für das Rezept. Patienten tragen den rosafarbenen Schein in die Apotheke, erhalten ihr Medikament, der Apotheker reicht das Rezept bei der Krankenkasse ein. "Verrechnungsscheck" nennt das die kleine, exklusive Einheit, die Kommissar Keller, Frank mit Vornamen, bei der TK leitet. "Abrechnungsmanipulation" heißt die elf Köpfe zählende Ermittlungsgruppe bei einer der größten Krankenkassen Deutschlands.

Und wenn Keller Rezepte liest, sind es solche, auf denen "Luft" verschrieben wurde. "Luftrezepte" sorgen für einen Millionenschaden im deutschen Gesundheitswesen. Und nur dank Keller und Co. wird ein Teil der Betrügereien aufgedeckt. Einer der krassesten Fälle von Abrechnungsmanipulation soll in diesen Tagen in Hamburg zur Anklage kommen - fast zwei Jahre nach einer groß angelegten Razzia.

Praxen, Geschäftsräume und Wohnungen von zwei Ärzten sowie drei Apothekern wurden damals durchsucht, in St. Georg, Winterhude, Altona, Rahlstedt. Kistenweise schleppten die Ermittler Beweismaterial aus den Räumen. Im Fall A. geht es um Betrug mit Versichertenkarten in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro. Die Bande hatte leichtes Spiel. Mit den gestohlenen oder missbrauchten Karten von Mitwissern haben Ärzte Rezepte für Medikamente ausgestellt. Boten brachten die Scheine zu den eingeweihten Apothekern. Die gaben keine Ware heraus, rechneten aber die Rezepte gegenüber der Kasse ab.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs in Hamburg. "Man kann von einem organisierten Zusammenwirken sprechen", sagt Jörn Graue, Vorsitzender des Hamburger Apothekervereins. Andere werden noch deutlicher: "Mafia", "organisiertes Verbrechen", "Betrugshochburg Hamburg" sind die am häufigsten gehörten Schlagworte aus Ermittlerkreisen.

In Hamburg hat sich der Fall A. als beispielhaft für die Abzocke mit Rezepten gezeigt. Im Prozess werden vermutlich viele der Tricks aufgedeckt, mit denen die Betrüger zulasten aller Krankenversicherten Millionen erbeuten. Außerdem tun sich neue Abgründe auf: Weitere Verdächtige werden in Ahrensburg, Eppendorf, Rotherbaum beobachtet.

Oft tappen die Behörden wegen der Fülle an Spuren und Verdachtsmomenten im Dunkeln. Das Landeskriminalamt (LKA) verweigerte gegenüber dem Abendblatt eine Stellungnahme: "Aus polizeitaktischen Gründen." Rüdiger Bagger, Sprecher der Hamburger Staatsanwaltschaften, kann noch keinen Anklagetermin nennen. Die Gerichte sind überlastet. "Die kommen mit den vielen Fällen überhaupt nicht nach", lautet die am weitesten verbreitete Kritik in diesem unterbelichteten Kriminalitätssektor.

Betroffene Krankenkassen bestätigen oft nur, dass sie betrogen wurden. Es ist ja auch peinlich, gegenüber den Versicherten eingestehen zu müssen, dass es Lücken in der Abrechnung gibt, die kaum zu schließen sind. Die jährlichen Erfolgsmeldungen über die Summen, die von betrügerischen Ärzten oder Apothekern wieder eingetrieben wurden, übertünchen das Ausmaß des Betrugs. Ein namhafter Kriminologe aus Niedersachsen führt zurzeit eine Studie "in diesem hochsensiblen Bereich" durch und fürchtet durch eine Auskunft um seine Ergebnisse.

Ärztevertreter schätzen, dass jedes Jahr in Deutschland der Rezeptbetrug einen Schaden von einer bis zu fünf Milliarden Euro verursacht. Die Antikorruptionsorganisation Transparency International spricht von insgesamt 24 Milliarden Euro Schaden durch Gaunereien im Gesundheitswesen hierzulande.

Frank Keller erhält im Schnitt täglich vier neue Hinweise. Der Abrechnungsprozess für die monatlich allein bei der TK anfallenden 2,5 Millionen Rezepte ist aufwendig. Daten, die Keller interessieren könnten, liegen oft erst ein Jahr später vor. Dann startet sein Puzzlespiel. Mit einem Berliner Stadtplan löste er einen spektakulären Fall. Aus verschiedenen Stadtteilen reisten immer dieselben Patienten in weit entlegene Arztpraxen, ließen sich Medikamente über je mehrere Tausend Euro verschreiben und lösten sie immer in nur einer Apotheke ein. "Luftrezept heißt, es wurde gar kein Präparat verkauft", sagt Keller. Der Apotheker rechnet ab, obwohl keine Ware über den Tisch gegangen ist. 50 Luftrezepte für ein HIV-Medikament bedeuten schnell eine gut sechsstellige Summe.

Hamburgs Apothekervereins-Chef Graue stören die schwarzen Schafe seiner Branche gewaltig. "Da ist häufig eine richtige Gang unterwegs: Ärzte, Zuträger, Apotheker." Betrüger sind sie alle. Im Hamburger Fall A. kam der Tipp von einem ausländischen Mitarbeiter eines Fast-Food-Restaurants. Der Geschäftsführer hatte einfach die Krankenkassenkarten einiger Mitarbeiter eingesammelt. "Die braucht die Buchhaltung mal", hatte es geheißen. Der Tippgeber beklagte sich bei der Polizei, dass es so lange gedauert hatte, bis er seine Karte zurückbekam. Mit diesen Karten wurden Rezepte erschlichen, teilweise von konspirativen Ärzten ausgestellt. Ganze Rezeptstapel wurden sogar in der Privatwohnung eines Arztes gefunden.

"Die Versichertenkarte ist der Schwachpunkt", sagt Keller. Vier Millionen Karten, die sich noch im Umlauf befinden, sollen derzeit gesperrt sein. Aber das kann man beim Durchziehen durch das Lesegerät beim Arzt nicht feststellen. Diese Karten sind zum Teil noch lange gültig, haben kein Foto und können für Abrechnungen mit den Kassen missbraucht werden.

Dass gerade mit den Karten ausländischer Arbeitnehmer Schindluder betrieben wird, zeigt der Fall eines polnischen Gurkenpflückers in Niedersachsen. Am Ende der Saison waren über seine Versichertenkarte 900 Rezepte abgerechnet worden. Ob er Opfer oder Mittäter war? Er pflückte nur eine Saison.

Es gibt auch Patienten, die gemeinsame Sache mit den Apothekern machen, sich teure Präparate für hohe Beträge verschreiben lassen, das Rezept einlösen, ohne Ware zu erhalten, und dann ein "Guthaben" in ihrer Apotheke haben. Dann gibt es mal die Aspirin-Packung gratis oder eine prall gefüllte Urlaubsapothekentasche. Aus einem Hamburger Krankenhaus gingen auch schon stapelweise Rezepte in eine bestimmte Apotheke. Das ist illegal. Jeder Patient muss nach dem Gesetz mit seinem Rezept in der Hand sich eine Apotheke aussuchen können. Waren diese Rezepte wirklich verschrieben worden? Steckte ein einzelner Patient mit einer penibel diagnostizierten Krankheit hinter jedem rosa Schein?

Kassen-Detektive fanden im vergangenen Jahr heraus, dass in einer Hamburger Arztpraxis an einem Tag 42-mal dasselbe Magenmedikament verschrieben wurde. Es muss eine Epidemie gewesen sein.

In einem anderen Fall hatte der Apotheker mehrfach eine ohnehin teure Dosis eigenhändig erhöht und "nach Telefonat mit dem Arzt" auf dem Rezept vermerkt. Erst Anruflisten der Telekom ergaben, dass aus seiner Apotheke nie mit dem Arzt gesprochen wurde.

Dem Abendblatt liegt ein aktueller Warnbrief der Apothekerkammer an Hamburger Apotheken vor. Darin wird sehr zurückhaltend eine "unzulässige Zusammenarbeit" zwischen Ärzten und Apothekern beschrieben. Es waren zuletzt vermehrt Rezepte über größere Mengen Prostavasin (Herzmittel) und Botox (zur Behandlung bei Bewegungsstörungen und in der kosmetischen Chirurgie) aufgetaucht. Patienten, über deren Karten die Rezepte liefen, wussten oft nichts davon. Wieder ein Mafia-Verdacht in Hamburg.

"Die Patienten erhalten das Botox vermutlich gar nicht. Es wird wahrscheinlich von Ärzten für kosmetische Zwecke eingesetzt, die sich das privat von anderen Patienten bezahlen lassen", so ein Insider zum Abendblatt. Das hat es auch schon beim Potenzmittel Viagra und beim Schmerzmittel Tilidin gegeben. Beide Medikamente wurden in Hamburg in großen Mengen auf dem Schwarzmarkt angeboten. "Hamburg und Berlin sind die Metropolen für den Schwarzmarkt mit Viagra und mit teuren Rezepten für HIV-Präparate", sagt ein Kassen-Ermittler. Auch Krankenkassenkarten würden in beiden Städten in rauen Mengen unter der Hand weitergegeben, ob gestohlene oder "ausgeliehene".

Tilidin fiel früher unter das Betäubungsmittelgesetz, hilft jetzt Krebspatienten und macht Gesunde hochgradig aggressiv. In Türsteherkreisen und sogar in der islamistischen Szene sind die Tropfen bereits aufgetaucht. Dort gehört die Dauer-Aggression zum Alltag. Abhängigkeit ebenso.

Die Hamburger Task Force im LKA ("medizinische Schadensfälle") leidet unter häufigem Personalwechsel - und das bei dieser komplexen Materie. Zwar sind alle Ermittler aus den Kassen mit denen des LKA und dem besonnenen Spürhund des Apothekervereins, Jörn Graue, gut vernetzt. Zwischen Verdacht und Anklage liegen aber wie im Fall A. der Ärzte-Apotheker-Machenschaft Jahre. Im Berliner LKA wurde wegen des gewaltigen Betrugsvolumens eigens eine schlagkräftige Abteilung eingerichtet: Medicus.

Nach den Recherchen im jetzt angelaufenen Anklageverfahren A. waren plötzlich fünf Apotheken betroffen. Vier sind bereits geschlossen. Ein Apotheker lebt mittlerweile in Südamerika. Der Hauptbeschuldigte aber arbeitet weiter. Graue sagt, dass der Vertragsausschuss Verwarnungen und Geldstrafen aussprechen, sogar eine Apotheke von der Belieferung mit Medikamenten für zwei Jahre abschneiden kann, um sie auszutrocknen. "Aber die machen oft mit Tricks weiter, gründen Filialen oder beteiligen sich anderweitig am betrügerischen Warenkreislauf."

"Kommissar Keller" kennt immerhin einen ähnlich gelagerten Fall, in dem ein Kreislauf von Korruption unterbrochen wurde: Mit seiner Puzzlearbeit überführte er einen Arzt, der jahrelang betrogen hatte. "Da klickten die Handschellen, als der sich gerade Richtung Malediven aufmachte, um eine Tauchschule zu gründen und das Geld zu genießen."