Die kleine Michelle hätte gerettet werden können. Wenn die Zweieinhalbjährige nicht in diesem schlechten Pflegezustand gewesen wäre. Wenn das kranke Kleinkind nicht fast 24 Stunden lang sich selbst überlassen worden wäre. Wenn, so formulierte es ein Gerichtsmediziner, "ihre Eltern mal geguckt hätten". Doch ihre Eltern guckten nicht. Sie schauten weg und verriegelten die Kinderzimmertür. Wie sie es sooft machten, um nicht von ihren sechs Kindern gestört zu werden. Jetzt verkündete das Landgericht das Urteil gegen Nicole G. und Andreas J., deren Tochter an einem Hirnödem starb, weil sie laut Anklage keine ärztliche Hilfe holten: Drei Jahre Haft verhängte die Kammer gegen die 29 Jahre alte Frau und ihren 35 Jahre alten Lebensgefährten wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Fürsorgepflicht.

Mit dem Strafmaß geht die Kammer deutlich über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinaus, die für beide Angeklagten eine zweijährige Bewährungsstrafe gefordert hatte. Nicole G. wischt sich während der Urteilsbegründung immer wieder über die Augen, Andreas J. wirkt wie erstarrt. Sechs Kinder hatte das Paar in sechs Jahren bekommen, ließ sie in der Lohbrügger Dreizimmerwohnung in völlig vermüllten Zimmern hausen, "die in unbewohnbarem und menschenunwürdigem Zustand waren", so der Vorsitzende Richter. In den Räumen hatte es von Fliegen gewimmelt, die Kinder mußten dort ihre Notdurft verrichten. Die fünf überlebenden Geschwister sind seit dem Tod von Michelle am 1. Juli 2004 im Kinderheim, das Sorgerecht ist den Eltern entzogen. Doch Nicole G. ist wieder schwanger, ihr siebtes Kind wird in etwa drei Wochen zur Welt kommen. Was aus dem Neugeborenen wird, wird das Familiengericht entscheiden.

Die Mutter sei mit der Erziehung überfordert gewesen, sagt der Kammervorsitzende; der Vater, ein Altenpfleger, habe sie nicht unterstützt, sondern lediglich geholfen, "die katastrophalen Zustände zu verbergen". Sozialarbeiterinnen, die Monate vor Michelles Tod eingeschaltet waren, hatten sich über den Zustand der Familie täuschen lassen. So hatten sie die Kinderzimmer nicht überprüft und den Lügen der Mutter geglaubt, ihre Kinder seien in der Kindertagesstätte.

Schon Monate vor ihrem Tod, so fanden Gerichtsmediziner heraus, muß die kleine Michelle fast ausschließlich gelegen haben. Sie hatte Druckstellen, litt zuletzt an einer Mandelentzündung. Doch die Mutter hatte am Tag vor Michelles Tod geglaubt, so hatte sie im Prozeß gesagt, das Kind habe "nur eine Erkältung". Sie schickte das Kind in sein Zimmer, sah nicht mehr nach ihm. "Sie hatte es vergessen", so der Richter. Erst 24 Stunden später schaute sie wieder nach Michelle - als es zu spät war. Ihre ältere Schwester hatte die Mutter alarmiert: "Michelle, tot!"

Doch nicht nur die Zweieinhalbjährige hatte gelitten, auch ihre Geschwister waren extrem vernachlässigt. Die Kleidung der Kinder mußte, nachdem sie im Kinderheim untergebracht waren, weggeworfen werden. Sie kannten keine Zahnbürste, wußten kaum, wie man auf Toilette geht. Eine Anderthalbjährige reagierte auf keinerlei Ansprache, konnte nicht einmal krabbeln, ihr fünfjähriger Bruder weder sprechen noch Treppen steigen. Alle Geschwister litten unter sogenannten Jaktationen, schlugen immer wieder ihre Köpfe gegen Wände - ein deutliches Zeichen für mangelnde Beschäftigung und Zuwendung. Regelmäßige Mahlzeiten kannten sie nicht. Wenn sie etwas zu essen bekamen, stopften sie es wahllos in sich hinein, aus Angst, lange nichts mehr zu bekommen. Denn so hatten sie es in ihrem Elternhaus erlebt: Dort gab es von der Mutter zu unregelmäßigen Zeiten Essen. Der Vorsitzende Richter: "Brot wurde in die Zimmer gereicht - wie in einen Käfig."