Abitur: Pädagogen diskutieren über den Literaturkanon der Bildungsbehörde. Das Abendblatt sprach mit dem Autor und Kritiker Hellmuth Karasek
Wer in Hamburg Abitur machen will, muss ab 2005 umfangreiche Literaturkenntnisse vorweisen. So will es die Bildungsbehörde. Zu diesem neu entwickelten Kanon gehören Werke von Klassikern wie Goethe und Schiller, Brecht und Kafka. Aber auch weniger bekannte Autoren sind vertreten, darunter Andreas Gryphius und Karl Philipp Moritz. Über den Nutzen der Literatur-Liste schwelt bereits ein Streit zwischen der Bildungsbehörde und einigen Verbänden. Einer, der die Auswahl bestens beurteilen kann, ist Hellmuth Karasek - Literaturpapst ("Das literarische Quartett") und Bestseller-Autor ("Das Magazin").
ABENDBLATT: Herr Professor Karasek, endlich gibt es einen verbindlichen Literatur-Kanon für Hamburgs Schulen . . .
HELLMUTH KARASEK: Ja, das ist hervorragend! Der Kanon stiftet Tradition. Wir leben schließlich in einer Nation mit Vorgaben: Baudenkmäler, historische Ereignisse - und dazu gehört auch die Literatur. Damit ist man eingebettet. Eingebettet in seine Umgebung, sein Volk.
ABENDBLATT: Was ist daran besser als an den alten Lehrplänen?
KARASEK: Eine Zeit lang hat man an der Schule gedacht, man muss nur das Aufnehmen schärfen. Jetzt weiß man, dass auch ein Bodensatz dazu gehört. Nämlich Kultur. Es reicht nicht, wenn man sagt ,ich bin schlau'. Es gehört einfach zu einem Land, dass man weiß, dass hier der Kölner Dom ist, wo der Rhein fließt und wo die Schlösser von Ludwig II liegen.
ABENDBLATT: In der Liste stehen Autoren wie Gryphius und Grimmelshausen. Ist das nicht Schnee von gestern?
KARASEK: Gryphius vermittelt irrsinnig gut, was Krieg bedeutet, Grimmelshausen hat die Schrecken der Folter beschrieben. Das sind alles brandaktuelle Themen.
ABENDBLATT: Aber was ist jetzt konkret der Nutzwert für einen 18-Jährigen?
KARASEK: Bei der Kultur ist der Nutzwert nicht entscheidend. Von Bildung hat man nichts - außer der Bildung selbst. Mit der Bildung erlangt man aber eine patriotische Zugehörigkeit. Und die ist im wachsenden Europa sehr wichtig.
ABENDBLATT: Was ist mit experimenteller Lyrik - beispielsweise von Ernst Jandl? Was soll das 18-Jährigen von heute bringen?
KARASEK: Jandl ist ein hervorragendes Beispiel dafür, den Sinn für Sprache zu schärfen. Außerdem sollten wir uns wünschen, dass die Menschen wieder Anspielungen verstehen, dass man sich über Zitate verständigt. Jandl zum Beispiel steht für Lechts und Rinks.
ABENDBLATT: Immer wieder wird Goethe verlangt. Wie viel Goehte brauchen wir eigentlich?
KARASEK: Zwischen sehr viel und einer homöopathischen Dosis. Nein, im Ernst: Das muss jeder selbst entscheiden.
ABENDBLATT: Aber was ist eigentlich, wenn jemand den "Faust" nicht gelesen hat - merkt man das heutzutage überhaupt noch?
KARASEK: Nein. Erst mal merkt man das genauso wenig, wie wenn jemand kein Türkisch sprechen kann. Irgenwann wird er es selbst merken, dass er ärmer dran ist. Der Nutzwert ist ja nicht das Wichtigste, sondern der Eigenwert. Man fühlt sich einfach reicher und geborgener.
ABENDBLATT: Und was kann der 18 Jahre alte Computerhacker von Goehtes "Faust" lernen, was er sonst nicht lernen würde?
KARASEK: Vor allem, wie ein Autor mit der Sprache umgeht. Wie man in der bedrängten Enge des 18. Jahrhunderts an die frische Luft wollte. Hinaus. Sie können lernen, dass sich Leute unbequem fühlten - in den Gesetzen und Konventionen abgeschnürt waren. Faust ist der Erste, der diese Konventionen durchbricht.
ABENDBLATT: Und das kann mit drei Harry-Potter-Büchern nicht erreicht werden?
KARASEK: Das weiß ich nicht, weil ich Harry Potter aus Zeitmangel selbst nicht gelesen habe. Aber ich bedauere das sehr. Ich glaube aber, dass für Jugendliche auch Harry Potter wichtig ist.
ABENDBLATT: Gibt es denn überhaupt nichts, was Ihnen an der Liste missfällt?
KARASEK: So eine Liste ist natürlich kritisierbar. Ich schätze "Die Rote" von Alfred Andersch nicht so sehr. Aber das sind Korinthen.
ABENDBLATT: Sie gelten heute als Literaturpapst. Aber wie waren sie als 18-Jähriger? Haben Sie sich da auch schon für Klassiker interessiert?
KARASEK: Ich bin in Zeiten aufgewachsen, da war Literatur so etwas wie Brotersatz. Man hat gespürt, dass man während der Nazizeit von Literatur abgeschnitten war. Deshalb war man froh, dass es kritische Literatur gab.
ABENDBLATT: Und welche Autoren haben Sie konkret gelesen?
KARASEK: Mein erster Lieblingsautor war Musil, dann Kafka. Kafka war wie ein Erweckungserlebnis für mich. Das war, als ob ich plötzlich einen Schlüssel zur Gegenwart hätte. Auch die ganzen politischen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit hätte ich ohne George Orwells "1984" gar nicht verstanden.
ABENDBLATT: Was sollen Jugendliche heute darüber hinaus lesen?
KARASEK: Das, was sie, angeregt durch Gespräche, mitbekommen.
ABENDBLATT: Wann haben Sie eigentlich zuletzt "Faust" gelesen?
KARASEK: Erst vor kurzem. Aber nicht den "Faust", sondern im "Faust". Ich bin allerdings Theaterkritiker, da gehört das zu meinem Job.
Interview: Miriam Opresnik, Matthias Schmoock