Der geschasste Senator Ronald Schill tritt auf wie ein Star, sein neu gewählter Nachfolger und ehemaliger Zögling Dirk Nockemann gibt sich bescheiden.

Hamburg. Es ist der Tag von zwei Männern, die sich noch vor wenigen Monaten sehr nahe gestanden haben. Dirk Nockemann war Bürochef. Bürochef von Innensenator Ronald Schill. Heute gelten Schill und Nockemann als Intimfeinde. Und heute ist der Tag, an dem sie vor der Hamburgischen Bürgerschaft aufeinander treffen werden. Nockemann soll Schill folgen als Innensenator. Unterschiedliche Männer, unterschiedliche Wege - aus der Macht, an die Macht. Es ist 14.35 Uhr, als Ex-Innensenator Ronald Schill seine Wohnung in einem schmucklosen Hochhaus verlässt. Vor der Tür Reporter. Schill trägt dunkelblauen Nadelstreifen und eine knallrote Krawatte mit weißen Punkten. An diesem Tag gilt er als gefährdete Person: Vier Personenschützer vom Landeskriminalamt, darunter eine Frau, begleiten Schill auf seinem Weg ins Rathaus. Tagelang hat Schill geschwiegen, sich rar gemacht. Jetzt weiß die Öffentlichkeit: Schill hat sich entschieden - er will sich in die letzte Reihe setzen, er will abstimmen über seinen Nachfolger. Dirk Nockemann hat seinen Arbeitstag schon um 8.30 Uhr begonnen. Nach dem Frühstück mit Frau und Kindern ist er in die Innenbehörde am Johanniswall gefahren. "Zurückhaltend, aber angespannt", beschreibt ihn ein Mitarbeiter. Nockemann weiß um die Brisanz der Abstimmung, die für 15 Uhr in der Bürgerschaft angesetzt ist. Fällt er durch, fällt die Mitte-Rechts-Koalition. Neuwahlen wären unausweichlich. In der Innenbehörde bespricht Nockemann sich noch einmal mit Schill-Parteichef Mario Mettbach. Der beruhigt: "Das wird schon glatt gehen." Mittags gibts einen Salat, selbst geholt, um ein wenig Luft zu schnappen. Um 14 Uhr fährt Nockemann ins Rathaus. Letztes Treffen der Fraktion vor der Wahl. Er ist nervös. "Das ist schon spannend", sinniert er. Um 14.53 geht Nockemann über den Flur vom Bürgersaal in den Plenarsaal. Er plaudert kurz mit Ole von Beust, schüttelt CDU-Fraktionschef Michael Freytag lange die Hand - Zeichen der Hoffnung? Zu diesem Zeitpunkt sitzt Ronald Schill noch im E-Klasse-Mercedes des Staatsschutzes. Auf der Rückbank. Auch er weiß: Die Zukunft der Koalition hängt von der Wahl Nockemanns ab. Was er auch weiß: wie er seinen Auftritt inszenieren wird. Schills Wagen biegt um 14.54 Uhr auf den Innenhof des Rathauses. Schill steigt aus, betritt dynamischen Schrittes die Rathausdiele. Er wirkt ruhig und erholt. Was Schill insgeheim erwartet hat, tritt ein. Ein Pulk Journalisten stürzt sich sofort auf ihn. Schill weiß, dass die Uhr tickt, gibt trotzdem seelenruhig Interviews. "Ich bin heute hier, weil ich meiner Pflicht als Abgeordneter folge", sagt der ehemalige Innensenator. Wie er abstimmen wird? Dazu will er zunächst nichts sagen. Er lächelt, gibt sich charmant: "Das ist mein kleines privates Geheimnis." Aber eines, und dabei ist ein drohender Unterton zu vernehmen, will er mit seiner Anwesenheit sicherstellen: "Ich werde darauf achten, dass das Spiel von Ole von Beust, meine Partei zu einem Wurmfortsatz der CDU zu machen, nicht aufgeht." Damit er seinen Platz als Hinterbänkler in der Bürgerschaft auch findet, hat Schill einen Zeitungsausriss mitgebracht. Er zieht den Artikel mit dem Foto des Saals aus der Jackett-Tasche, schaut noch einmal drauf. "Da, der Klappstuhl mit der Nummer 81, da muss ich hin." Dirk Nockemann hat unterdessen auf seinem Abgeordnetenstuhl Platz genommen, direkt neben Schill-Fraktionschef Norbert Frühauf. Bürgerschaftspräsidentin Dorothee Stapelfeldt (SPD) hat gerade die Sitzung eröffnet, ihr Vize Farid Müller (GAL) ruft die ersten Abgeordneten alphabetisch zur Wahl auf. Nockemann wirkt äußerlich gelassen, sitzt völlig entspannt. Das ist der Moment, in dem Schill den Saal betritt. Und es passiert genau das, worauf Schill kalkuliert hat. Es ist der Effekt, wie ihn eine Blondine erzielt, wenn sie als Letzte auf einer Party erscheint. Alle Köpfe wenden sich, die Aufmerksamkeit ist fokussiert. Das hat Schill gewollt, das tritt ein. Er zwängt sich auf den Klappsitz Nummer 81. Kameras surren, Fotoapparate klicken wie wild, Mikrofone werden vor sein Gesicht gehalten. Und Schill genießt . . . Die Abstimmung über Nockemann läuft derweil fast unbeachtet weiter. Schill gibt Statements ab, dann kommt auch noch seine Ex-Lebensgefährtin Katrin Freund, begrüßt ihn überschwänglich mit Wangenküsschen. Ruhe kehrt erst wieder ein, nachdem Bürgerschaftspräsidentin Stapelfeldt zweimal energisch interveniert. Dirk Nockemann wendet nur einmal kurz den Blick, dann muss er seine Stimme abgeben - eine Stimme, die ihm sicher ist. Wolf-Dieter Scheurell (SPD) wird zur Stimmabgabe aufgerufen, dann Ronald Schill. Die Uhr zeigt 15.15 Uhr. Der Ex-Innensenator geht nach vorn. Auftritt. Die Abgeordneten bleiben kühl, mancher wendet sich ab, nur wenige nicken ihm aufmunternd zu. Es ist einsam geworden um Schill. Er nimmt seinen Stimmzettel, verschwindet in der linken von zwei Wahlkabinen. Als er den Wahlzettel in die Urne stecken will, zittern seine Hände. Absicht? Fotografen rufen ihm zu: "Jetzt lächeln!" Schill bleibt unbewegt, kehrt zu Platz 81 zurück. Es folgen Minuten des Wartens. In einem Nebenraum wird fieberhaft gezählt. Dirk Nockemann verlässt den Plenarsaal, geht in den Kaisersaal, holt sich eine Tasse Kaffee, ein Stück Streuselkuchen. Fraktionskollegen reden auf ihn ein, der designierte Innensenator bleibt einsilbig. Knapp zehn Minuten später wird die Sitzung fortgesetzt. Bürgerschaftspräsidentin Stapelfeldt verkündet um 15.28 Uhr: "Es wurden 121 Stimmen abgegeben, davon waren 119 gültig, zwei ungültig. 60 Abgeordnete stimmten mit Ja, 57 mit Nein, es gab zwei Enthaltungen." Verhaltender Beifall bei den Abgeordneten der Mitte-Rechts-Koalition. Nockemann lächelt. Er hat es geschafft, er ist als Innensenator gewählt, nimmt Glückwünsche und Blumen entgegen. Schill bekommt dies alles nicht mehr mit. Er ist schon vor der Verkündung wieder in die Lobby gegangen, gibt weiter Interviews, löst das Rätsel darum, wie er selbst abgestimmt hat: "Ich bin hier heute friedlich erschienen. Ich habe keine ungültige Stimme abgegeben. Ich habe mich enthalten." Bei seiner Vereidigung wählt Nockemann den Zusatz "so wahr mir Gott helfe". Um 15.55 Uhr nimmt er auf der Senatsbank Platz, direkt hinter Ole von Beust. Katrin Freund kommt, tuschelt, verlässt mit ihm den Saal. Auf dem Flur wartet Ronald Schill. Er streckt Nockemann die Hand entgegen, gratuliert, umarmt ihn sogar. "Glückwunsch", sagt Schill. Nockemann nimmt an. Kühl. Später kommentiert er die Geste knapp: "Menschlich anständig." Aus der Macht, an die Macht.