Im digitalen Zeitalter geht es um den richtigen Umgang mit dem Netz. Es wegen der Auswüchse zu verteufeln ist selbst gefährlich
Cybermob, Shitstorm, anonyme Aggression - die aktuelle Debatte regiert eine neue Netzfeindlichkeit, die eine entscheidende Frage verdeckt: Wie kann es gelingen, öffentliche Kommunikation zu zivilisieren?
Nach Jahren der Euphorie hat das Internet dieser Tage einen ziemlich schlechten Ruf. Es gilt nun als das Medium der künstlichen Daueraufregung und als Instrument der Menschenjagd. Das Netz erzeuge eine oberflächliche, dümmliche Aggression, lautet der Vorwurf. Es brutalisiere Menschen, die nicht mal in der Lage seien, im Miniformat einer Twitter-Botschaft orthografisch korrekt zu formulieren, so bekommt man zu lesen. Man solle den Zugang für Jugendliche sperren, forderte ein erregter Bürger in einer kürzlich ausgestrahlten Radiodiskussion. Ein anderer: Der Mensch befinde sich "in der Knechtschaft der Maschine". Wieder ein anderer: Am sinnvollsten sei es vermutlich, das Internet "einfach ganz abzuschalten", zumindest für ein paar Tage.
Die Anlässe der neuen Netzfeindlichkeit sind datierbar. In Emden verdächtigte im März dieses Jahres die Polizei zu Unrecht einen 17 Jahre alten Schüler, ein Mädchen vergewaltigt und umgebracht zu haben. Blitzschnell formierte sich, kaum war der Verdacht im Umlauf, ein Cybermob und forderte den Kopf des jungen Mannes. Der zweite Anlass ist mit einer Racheaktion der Hochspringerin Ariane Friedrich verknüpft.
Die Sportlerin machte kürzlich eine sexuelle Belästigung in Form eines Fotos und einer Mail öffentlich; sie nannte den Namen und die Adresse des mutmaßlichen Absenders auf ihrer Facebook-Präsenz. Ihr Ziel war es, durch Prangermethoden Vergeltung zu üben, Selbstjustiz zu praktizieren - subjektiv verständlich, aber doch falsch.
Interessanterweise zeigen überdies gerade die genannten Fälle, dass die aktuelle Aufgeregtheit an einer folgenschweren Verwechslung krankt. Denn letztlich verwechseln die schockierten Fundamentalkritiker der Netzwelt das Medium mit den Menschen, die dieses einsetzen. Sie suchen einen Schuldigen - und greifen sich die Technologie, das Instrument zur Verbreitung der bösen Botschaft.
Niemand muss jedoch in einem öffentlichen Forum zum Mord an einem Verdächtigen aufrufen. Und was immer man von Facebook hält - kein Programmierer hat die Selbstjustiz und die Abschaffung der Unschuldsvermutung zur Standardeinstellung der Kommunikation gemacht. Es war Ariane Friedrich, die durch den Akt der wütenden Ad-hoc-Publikation den Rollenwechsel vollzogen hat und so selbst zur Täterin wurde.
Natürlich, es ist schon richtig: Das Netz erlaubt die Blamage auf einer weltweit einsehbaren Bühne. Es lässt sich benutzen, um Dokumente der Demontage in Hochgeschwindigkeit zu verbreiten, die sich kaum noch zensieren lassen. Und es macht den Skandal allgegenwärtig und den Reputationsverlust zum unkalkulierbaren Dauerrisiko.
Aber es stimmt eben auch: Man kann die neuen Kommunikationstechnologien verwenden, um mit ihrer Hilfe Kriegs- und Schandbilder bekannt zu machen, für Aufklärung und Transparenz zu sorgen und dabei mitzuhelfen, Folterer zu entlarven, Diktatoren einzuschüchtern, sie im Extremfall zu stürzen.
Wer nun das Medium selbst schuldig spricht, der glaubt nicht an die Menschen, die in der Lage sind, dieses auf sehr unterschiedliche Weise zu benutzen. Er will sie bevormunden, durch Verbote kontrollieren, denn sie sind ihm unheimlich. Und er lässt bei alldem, dies wiegt am schwersten, die entscheidende Herausforderung aus dem Blick geraten: Wie kann es gelingen, gleichsam von Kindesbeinen an, ein Gespür für Medieneffekte zu entwickeln?
Wie sieht ein neues, der Gegenwart gewachsenes Konzept der Medienpädagogik aus, das eine Mentalität des empathischen Abwägens befördert? Was heißt Medienkompetenz im digitalen Zeitalter? Man muss es so hart sagen: Die Verteufelung des Internets ist selbst gefährlich. Sie blockiert die dringend gebotene Suche nach geeigneten Rezepten und Ideen, um die öffentliche Kommunikation zu zivilisieren. Und sie ist denen, die bis auf Weiteres an die Mündigkeit des Menschen glauben, nicht würdig.
Bernhard Pörksen, 43, Medienprofessor in Tübingen, ist mit Hanne Detel Autor von "Der entfesselte Skandal" (19,80 Euro)