Fortsetzungsroman - Teil 1: Michael Jürgs schreibt, wie alles begann
Falls ich vor Sonnenuntergang noch ein letztes großes Abenteuer erleben will, dachte sie beim Frühstück, muss ich mir bald was einfallen lassen. Sie war achtundvierzig, und in ein paar Jahren würden sich allenfalls noch polnische Bauarbeiter nach ihr umdrehen. Voraussetzung dafür wäre allerdings ein plötzlicher Todesfall. Der ihres Mannes, der ihr gegenübersaß und seinen Tee schlürfte.
Falls ich vor Sonnenuntergang noch ein letztes großes Abenteuer erleben will, dachte er beim Frühstück, muss ich mir bald was einfallen lassen. Er war jetzt fünfundfünfzig, und in ein paar Jahren würden sich allenfalls noch gleichaltrige Frauen für ihn begeistern können, oder er würde für jüngere bezahlen müssen. Voraussetzung dafür wäre allerdings ein plötzlicher Todesfall. Der seiner Frau, die ihm gegenübersaß und die Zeitung las.
"Kein schlechter Anfang", sagte der Mann halblaut zu seinem Powerbook, das wie üblich mit Pling antwortete, nachdem er die Taste SPEICHERN gedrückt hatte. Die bis zum Ende des zweiten Absatzes geschriebenen Anschläge ließ er vom Computer berechnen: 824. Einen Moment lang schloss er die Augen und bedauerte, dass ihm niemand gegenübersaß, dem er diesen Einstieg hätte vorlesen können. Doch der Augenblick verflüchtigte sich sofort wieder.
Er schob den Stuhl zurück, tastete automatisch nach der Zigarettenschachtel, die neben seinem Kaffeebecher lag, stand auf, ging zur halb geöffneten Balkontür, trat auf die Terrasse, zündete eine Zigarette an und schaute dann dem Rauch nach, den er mit dem ersten Zug ausstieß. In der Morgensonne vor ihm lag der Hafen. Es roch nach Dreck und Öl und Meer und Frühling. Bis zum Horizont, wo Wolken in die Ferne schwammen, ragten Kräne in den Himmel, an denen riesige Containerschiffe festgemacht hatten. Schier greifbar nahe vor ihm schaukelten Barkassen, bepackt mit Touristen, die Hamburg als Packagetour gebucht hatten. Sobald er den Kopf vorbeugte und um die Ecke der Brüstung schaute, konnte er hinterm Fischmarkt ein großes Kreuzfahrtschiff erkennen. Auf genau dem sollte die Erzählung spielen, mit der er gerade seinen Tag begonnen hatte. Für den klassischen Dreisatz, der ihm einst eingebläut wurde von einem löwenmähnigen Deutschlehrer, die Einheit von Ort und Zeit und Raum, war ihm als passende Bühne ein Oceanliner eingefallen. Auf dem sollte passieren, was seinen Figuren geschah. Das war als Ort so gut wie das Hotel in Menschen im Hotel. Als Gewürz brauchte er nur noch die üblichen Verdächtigen Liebe, Fernweh, Spannung, möglicherweise noch einen kleinen, feinen, unblutigen Mord aus Leidenschaft.
Er drückte seine Zigarette in einem Blumentopf aus und ging zurück an seinen Schreibtisch. Neben dem Computer lag der gelbe Block, auf den er spontane Einfälle zu kritzeln pflegte, bevor er versuchte, sie in druckbare Zeilen zu verwandeln. Manchmal gelang es. Manchmal gelang es nicht. In seinem letzten Roman nach Meinung von Kritikern, die er herzlich verabscheute, zu oft nicht. Seine Leser hatte das bislang nicht gestört. Die lasen keine Kritiken.
Er sprach laut vor sich hin, was er gestern zuletzt geschrieben hatte: "Die Elbe schlabberte und schwappte und stöhnte, und wenn er die Augen schloss, konnte er sich vorstellen, der Fluss sei eine alte Frau, die in kleinen Schlucken einen Café au Lait trank." Dann schüttelte er seinen Kopf und strich den Satz durch. So würde nur eine Frau schreiben, das passte nicht zu ihm. Der Vergleich war zwar immer noch verrückt gut, aber für seine Zielgruppe unverständlich irre. Der andere Anfang, der seit ein paar Minuten auf der Festplatte gespeichert war, dieser Text, den er jetzt auf dem Bildschirm wieder aufrief, der mit den heimlichen Mordfantasien, der gefiel ihm. Sogar sehr. Ich müsste aber, dachte er, dem Mann und der Frau eine stinknormale, gutbürgerliche Biografie verpassen, ähnlich normal wie die Lebensläufe meiner Leser, damit die wiederum in der Geschichte ihre eigene glauben entdecken zu können. Es darf also keinesfalls ein Ehepaar sein, das sich frühstückend tatsächlich bereits in mörderischer Absicht begegnet. Gemeingefährliches in dieser Art war tausendmal schon geschrieben, und alle ahnten, wie es am Ende ausgehen würde: Schuld und Sühne. Einzige offene Frage - doch die trug nun wirklich kein ganzes Buch -, wen von beiden es zuerst erwischte. Mord und Totschlag im Mai waren nicht so prickelnd, passten eher doch zum November, dem Monat, auf den leicht verzichten konnte, wer in Hamburg lebte. Es musste sich also um ein Paar handeln, das sich mit einer wahnwitzigen Idee zum Schreiben einer gemeinsamen Geschichte verabredete, aber noch nicht entschieden hatte, wer anfing, wer weiterschrieb und wie sie tatsächlich endete.
Spontan drückte er auf WORD und ENTER und schrieb:
"Der Mann und die Frau erhoben sich fast gleichzeitig. Er blickte kurz auf seine Uhr und meinte: ,In zwei Stunden lichtet das Schiff den Anker. Oder lichten die heutzutage gar keine Anker mehr? Fahren die einfach auf Kommando ENTER los?' Er wartete ihre Antwort aber nicht ab und zog sie quer zu sich über den Tisch, ohne auf umfallende Tassen zu achten, um sie zu küssen. Und dann ..."
... klingelte das Telefon. "Verdammte Scheiße", fluchte er leise, "ich hatte gerade eine so schöne Szene im Kopf, hätte dann gleich einen Schuss Erotik ins erste Kapitel packen können", zögerte einen Moment lang, doch seine Neugier siegte, er ging auf SPEICHERN und nahm den Hörer ab. "Ja?"
"Ich bin es", sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. "Ich wollte wissen, mit welchem Satz du die ersten sechstausend Anschläge aufhörst, damit ich mir was einfallen lasse, wie ich dann die Fortsetzung beginne. Haben die Figuren schon einen Namen und schon was erlebt, oder muss ich mir alles ausdenken?"
"Ich habe nur die Eingangsszene. Maile ich dir gleich. Zu den beiden Hauptfiguren kann ich dir aber schon was sagen, die heißen Tristan und Isolde und ..."
"Tristan und Isolde? Gab es die nicht schon mal in einer anderen Geschichte? Warum nimmst du nicht gleich Hermann und Dorothea oder Romeo und Julia ..."
"Das ist doch der Witz, mein liebes Trottelchen. Tristan ist Investmentbanker und Isolde Kuratorin an einem Museum. Was aus ihnen im Laufe der Geschichte wird, das überlasse ich dir. Du bist so frei." Dabei grinste er, was ein Beobachter, den es ja an diesem Morgen nicht gab, wahrscheinlich als gemein hätte bezeichnen können, und fügte noch schnell hinzu: "Apropos frei. Sehen wir uns heute Nacht? Bei dir oder bei mir?" Die Antwort schien ihm zu gefallen. Lächelnd legte er auf.
Morgen lesen Sie die Episode von Manfred Bissinger. Sie lesen von Liebesstunden in Isoldes Fünf-Zimmer-Altbauwohnung, von Treffen, die mit einem Glas Rosé-Champagner beginnen, von Kunstliebhabern und einer Ehe, die nur noch auf dem Papier besteht und emotional längst beendet ist.