Discounter und eine veränderte Käuferschicht haben ihn aus der Innenstadt verdrängt, den Real-Markt auf St. Pauli. Er schließt.
Hamburg. Der weiße Bau wirkt wie ausgesetzt. Liegen gelassen von der Zeit. Zu groß und von zu vielen leeren Parkplätzen umgeben. Gewellte Plastik-Platten an der Außenwand, drinnen Einkaufsfläche auf 10 000 Quadratmetern. Zwischen Millerntor-Stadion und Feldstraße steht das ramponierte Gebäude, das in früheren Zeiten eine Rindermarkthalle war. Wäre die Halle eine Frau, würde man sagen: Sie hat ihre beste Zeit längst hinter sich.
"Mein Haus", wie Herr Graupner sagt. Nur heute noch ist es das, nur noch diesen Sonnabend. Denn am Montag schon bleibt der Real-Markt geschlossen, geht ein in die Geschichte dieses von Veränderung schon fast müde gewordenen Stadtteils, St. Pauli.
Ein Supermarkt schließt. Es gibt gute Gründe dafür. Und Menschen, die sie auch verstehen, wie die Angestellten oder die Anwohner und auch die Stammkunden. Traurig, wie Herr Graupner sagt, ist es trotzdem. Er sieht müde aus, auch wenn sein kurzärmliges Hemd und die akkurat gebundene Krawatte einen anderen Eindruck erwecken sollen. Nach 34 Jahren, die er hier gearbeitet hat, wird er an diesem Sonnabend als Geschäftsführer die letzten Kontrollrundgänge durch seinen Laden machen und sich fühlen wie Trude Herr, die singt, niemals geht man so ganz, irgendwas von mir bleibt hier.
Ein Real-Markt von noch 330 in Deutschland. Im November 2008 gab die SB-Warenhaus-Kette, die zur Metro-Group gehört, bekannt, dass 33 ihrer Märkte geschlossen werden sollen oder verkauft, falls sie jemand möchte. Diesen Laden wollte keiner.
Zu Haferflocken kamen die Cornflakes, zum Radiorekorder der MP3-Player
Dabei gab es an dieser Stelle fast 40 Jahre lang einen Supermarkt mit Vollsortiment. Er ist gewachsen, und die Produkte wechselten mit der Zeit. Zu den Haferflocken kamen Cornflakes, zum Radio mit Kassette die CD-Player und schließlich MP3-Geräte, zum Bügelbrett gesellte sich die Waschmaschine mit integriertem Trockner. 1972 begann an diesem Markt die Hamburger Konsumgenossenschaft Produktion, die Firma, bei der Graupner seine Ausbildung gemacht hat, später übernahm Coop Frankfurt, Intermarché, Interspar, Walmart, oder eben zum Schluss Real.
Die Sache scheint einfach. Rentiert sich nicht mehr. Schreibt nur rote Zahlen. Hilft nichts. Müssen wir schließen. Leider. Markus Jablonski, Sprecher des Unternehmens für nationale Themen, sagt sogar: "Wir geben den Standort schweren Herzens auf. Aber es macht wirtschaftlich keinen Sinn mehr."
Wie es so weit kommen konnte, erklärt sich schon beim Blick auf die Umgebung. Die Halle ist ein Plattenbau in einer Gegend, in der saniert, Wände aus Glas gezogen und ehemalige Funktionsgebäude wie das benachbarte Schlachthofgelände längst zum Arbeitsplatz der Kreativen geworden sind. In der die Mieten steigen, Tiefgaragen unter die Häuser gebaut, alte Bewohner verdrängt werden, neue einziehen. Wo der Café Latte wurde, was er heute ist. Der Real-Markt ist der letzte unsanierte Koloss, dessen Angebot an Filterkaffee wie ein letztes Aufbäumen gegen die Gentrifizierung des Stadtteils zu fühlen ist. Und deren neue Bewohner lieber bei den hochwertigeren Edeka-Märkten oder gleich beim richtigen Discounter einkaufen.
Offenbar funktioniert das System des SB-Warenhauses, wie Real eines ist, nur noch in den Außenbezirken, nicht mehr in der Stadt. Zudem sei die Konkurrenz durch die viel kleineren und häufig billigeren Discounter laut Heiner Schote von der Hamburger Handelskammer zu groß geworden. In Hamburg sind in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 112 Discounter eröffnet worden. "Allein auf St. Pauli und in den angrenzenden Quartieren gibt es derzeit zehn Discounter, von denen die meisten erst in den vergangenen Jahren eröffnet wurden", sagt Schote. Und das Hamburger Unternehmen Edeka kündigte kürzlich für das laufende Jahr deutschlandweit an, 100 Märkte der Gruppe an selbstständige Einzelhändler zu vergeben und 200 neue Edeka-Märkte sowie 300 Discounter unter der Marke Netto zu eröffnen.
Gegen so viel Flexibilität, Schnelligkeit und Kapitalkraft wirkt der alte Real wie ein Dinosaurier, der von Discountern erst umzingelt und dann zu Fall gebracht wurde. Einst zeichnete sich das SB-Warenhaus gerade durch sein Vollsortiment, das gut geschulte Personal und die Loyalität der Kunden aus. Aber in Zeiten von Fleischskandalen, einer erschütterte das Unternehmen im Jahr 2005, steigenden Benzinkosten, Personalabbau und langen Schlangen an den Kassen, schwächelt das System. Auch in Graupners Markt wurden immer mehr feste Mitarbeiter durch Zeitarbeitskräfte, die erst eingearbeitet werden mussten, ersetzt. Und genug Kunden hatte das Haus, als Real den Markt im Jahr 2007 von "Wal-Mart" übernahm, auch damals schon nicht mehr.
Herr Graupner heißt mit Vornamen Klaus-Peter und ist 60 Jahre alt. Er hat schlecht geschlafen. Ist um drei Uhr nachts wach geworden. "Meine Pumpe ging so stark. Ich habe gefrühstückt und bin dann hierher gefahren. In den vergangenen Tagen wurde er es auch langsam leid, immer wieder die Fragen der Kunden nach Rabatten zu beantworten. Er hängte Plakate auf, auf denen erklärt wird, wie viel zehn Prozent von 20 Euro sind, wie viel 20 Prozent von 30 Euro, und sogar 50 Prozent von 9,99 Euro.
Herr Graupner ist auch nur noch heute für die rund 85 Mitarbeiter verantwortlich. 15 von ihnen haben eine neue Stelle. Der Rest fühlt sich wie Ladenhüter. Nicht gewollt, nicht gebraucht, Angebot ohne Nachfrage.
Die Regale bleiben leer, die Gänge werden abgesperrt wie Tatorte
"Die Emotionen kochen hoch", sagt Herr Graupner. Er trinkt einen Becher Kaffee in der Backstube. Ein Mann in kurzen Hosen schiebt in einem Einkaufswagen gut ein Dutzend Sektflaschen und einen der letzten DVD-Spieler in Richtung Ausgang. "Auf Spirituosen gibt es jetzt 15 Prozent, auf Elektronik 50, das lohnt sich." Graupner erhebt sich, trinkt nicht aus. Er geht den Rundgang machen. Denn wo etwas aus dem Regal genommen wird, ist es jetzt leer. Und leere Regale, so war bislang die Regel, müssen aufgefüllt werden. Seit vier Wochen etwa gilt diese Regel nicht mehr, wird ausverkauft. Weil schon fast alle Regale eher Müdigkeit als Kaufanreiz verbreiten, sind einige Gänge schon mit Absperrband versehen wie Tatorte nach einem Unfall oder etwas Schlimmerem. "Die Gänge sind fertig. Da sollen die Kunden nicht mehr rein."
Von denen sind auch nicht mehr viele da. Die meisten schauen nach Schnäppchen oder flanieren durch die Gänge wie Schaulustige. Wieder andere sind eher aus Prinzip hier, um nichts Brauchbares oder Verschenkbares zu verpassen. "Bald ist ja auch Weihnachten." Graupner lacht jetzt mal und stellt eine umgefallene Barbie wieder aufrecht hin. Stammkunden sprechen ihn an. Die Boerings, Siegrid und Walter, beide 76 Jahre alt, in hellen Jacken und Hosen, den Hackenporsche im Einkaufswagen. "Wir wollten uns noch mal bedanken", sagt Frau Boering und redet. 50 Jahre schon lebt sie auf St. Pauli, Walter ist hier geboren, und sie sind hier so gern einkaufen gegangen. Ihr Auto haben sie mit Bedacht abgeschafft. "Unseren Fernseher haben wir auch von hier." Walter, sag du doch auch mal. "Ja", sagt er, "wir wünschen Ihnen Glück", und reicht Graupner die Hand. Sie schütteln fest. Ein Händedruck zum Abschied. Das Paar schiebt weiter.
Die frühere Sportabteilung ist schon komplett gesperrt. Die Reste davon stehen beim Gemüse. An Graupners Gürtel hängt ein tragbares Telefon, mit dem ruft er einen Mitarbeiter an: "Kannst du mir noch mal einen Gefallen tun? Ja, die Fußbälle müssen aufgepumpt werden, platte kauft keiner. Ok? Ja. Du bist großartig."
Das ist einer der Mitarbeiter gewesen, der noch keine neue Stelle hat und für den es mit Mitte 50 auch nicht mehr so leicht wird. "Wir haben nach Tarif gezahlt, in vielen Discountern gibt es diese Bindung nicht mehr. Einigen wurde ein Bruttolohn von 7,50 angeboten. Davon kann man nicht leben." Bei Real gibt es etwa zwölf Euro die Stunde. Andere wollen erst einmal Urlaub machen, mit dem Geld der Abfindung. Die hat jeder bekommen, das betont Herr Graupner, regt sich aber gleichzeitig auf. "Ich habe denen gesagt, ihr könnt doch nicht wegfahren, wo ihr doch Arbeit suchen müsst." Er fühlt sich immer noch verantwortlich.
Als Mitte August klar war, dass es nur noch bis zum 31. Mai 2010 weitergeht, hat er eine Versammlung einberufen. Manche Mitarbeiter haben geweint, andere waren auch noch Tage später geschockt. Und manche merken es erst jetzt, dass sie Abschied nehmen müssen.
Der Abschied ist allgegenwärtig, die meisten haben noch keinen neuen Job
Das ist Gudrun, Frau Mohrlang, wie auf ihrem Schild auf der Brust steht. Sie ist 58 Jahre alt. Ein Gute-Laune-Schlachtross, es gibt immer einen Spruch, wenn jemand vorbeikommt. Sie sitzt an Kasse zehn, nur ihr Oberkörper ist zu sehen. Eine Kundin muss mal eben zur Toilette und stellt bei ihr den Wagen mit ihren Einkäufen ab, samt Handtasche. "Klar passe ich auf, wollen ja niemanden von der Toilette abhalten." Wenn sie lacht, schüttelt sich ihr ganzer Körper. "Früher habe ich gedacht, ich bleibe hier bis zur Rente", sagt sie. Ein paar Sekunden wartet sie, wie um noch mal nachzuhören, ob wirklich stimmt, was sie gerade gesagt hat. Eine neue Arbeit hat sie noch nicht, sich auch noch nicht beworben, weil sie erst ihr Knie operieren lassen will. "Ich habe immer schwer gearbeitet, mit 14 Jahren habe ich in einer Backfabrik angefangen." Sie wird drei Monate brauchen, bis sie wieder laufen kann. Ein Stammkunde kommt, Gudrun öffnet ihre Kassentür, steht auf. Sie scherzen, er klopft ihr auf die Schulter, dann geht sie. "Abräumen", wie es heißt. Er ruft ihr hinterher: "Gudrun?" Sie antwortet: "Gudrun ist weg."
Gestern Mittag kamen 20 Anwohner und Stammkunden in den Markt, verteilten an Herrn Graupner, Gudrun und die anderen Mitarbeiter rote Rosen und sangen ein Ständchen zum Abschied. Zur Melodie von Hans Albers' "Auf der Reeperbahn ..." dichteten sie. "Wer noch niemals abends um acht, aufm Sprung den Einkauf gemacht, ist ein armer Wicht, denn er kennt euch nicht." Es wurde wieder geweint.
Was aus der Rindermarkthalle wird, das weiß so genau noch keiner. Nicht der Bezirk Mitte, die Stadt, nicht die Anwohner. Aber es gibt Ideen von Musikhalle bis Wohnungen. Vielleicht wird es auch wieder einen Supermarkt geben. Einen kleineren. Herr Graupner wird dort nicht mehr arbeiten. Wenn die Regale leer und alles aufgeräumt ist, geht er auch. Er wird Frührentner.