Aufsässigkeit als ironisches Zitat - das finden viele Schanzen-Touristen, wenn sie tatsächlich ein Stück Stadt suchen, das ganz anders ist.

Von der Lederjacke des Spät-Punks grüßt ein knackiges "Fuck off!". Ein Plakat im krassen Szene-Design verrät den Namen einer Boutique: "Kauf dich glücklich!", fritz-kola wirbt so: "Nur Wasserwerfer machen wacher". Und ein Souvenirladen verkauft Taschen mit dem Aufdruck "St. Pauli" in Coca-Cola-Optik.

Aufsässigkeit als ironisches Zitat - das finden die vielen Schanzen-Touristen auf ihrem Zug vom U- und S-Bahnhof durch die Susannenstraße zur "Piazza" am Schulterblatt, wenn sie tatsächlich ein Stück Stadt suchen, das ganz anders ist.

+++ Name & Geschichte +++

+++ Kurz & knapp +++

+++ Fläche & Bevölkerung +++

+++ Töchter & Söhne +++

Balz-Kino auf dem "Galão-Strich"

Schanzenviertler nennen den Platz mit den alten Grenzsteinen zwischen Altona und Hamburg im Pflaster abschätzig "Galão-Strich", weil hier bei Sonnenschein Tausende zwischen Milchkaffee, Puddingtörtchen und Cocktail großes Balz-Kino zelebrieren, ungeniert vom Elend der Obdachlosen, die sich jenseits der Fahrbahn mit ihren Habseligkeiten auf der breiten Treppe der Roten Flora eingerichtet haben - ein obszöner Kontrast zwischen Armut und flirtiger Konsumlaune. Die Anwohner-Initiative hält mit Schildern "Kein Ballermann in der Susannenstraße" gegen den Rummel.

Noch Anfang der 80er-Jahre war das Schanzenviertel ein heruntergekommenes Altbaugebiet, wo Arbeiter, Ausländer und Studenten preiswert unterkamen. Ein Milieu, wo die Idee wuchs, dass Multikulti kein Schimpfwort ist, dass Platz sein muss für neue Lebensentwürfe.

Das Viertel hat Geschichte, auch wenn der Stadtteil Sternschanze erst seit März 2008 amtlich existiert. Namensgeber ist eine 1682 erbaute, der Stadtmauer Hamburgs vorgelagerte Verteidigungsanlage. Von hier stieg am 23. August 1786 der kühne Franzose Jean-Pierre Blanchard als Erster über Hamburg mit einem Heißluftballon auf. 1866 wird die Verbindungsbahn Hamburg-Altona gebaut, mit den Bahnhöfen Sternschanze und Schulterblatt (früher beim heutigen Schanzen-Beach-Club Central Park).

Rund um die Straße Schulterblatt, die ihren Namen einem Wal-Schulterblatt verdankt, das als Kneipenschild diente, entsteht im 19. Jahrhundert ein neues Viertel mit Wohnhäusern und Fabriken. 1867 wird der Zentral-Schlachthof errichtet, ab 1880 produziert Steinway Konzertflügel, ab 1910 Montblanc Schreibgeräte.

Mythos vom gallischen Dorf

1888 entsteht am Schulterblatt das spätere Concerthaus Flora, ein Entertainment-Palast für Konzerte, Varieté, Operetten, Stars und Boxkämpfe, mit einer Stahl-Glas-Bühnenhalle von Gustave Eiffel. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Flora Kino, dann ein 1000-Töpfe-Kaufhaus. Im Jahr 1988 wird ein großer Teil für ein Musical-Theater abgerissen. Der Neubau scheitert aber am Widerstand und der Besetzung der Ruine 1989. Damit beginnt ein neuer Mythos, der das Schanzenviertel seither zum kleinen gallischen Dorf stilisiert.

Bis heute ist "die Schanze" anders als der Rest von Hamburg, ein Platz für alternative Ideen von urbanem Zusammenleben, politisch widerborstig; bei der Bürgerschaftswahl 2011 bekam die CDU hier überschaubare 4,1 Prozent (im Vergleich: SPD 37,9 Prozent, Grüne/GAL 24,9 Prozent). Die Rote Flora ist in der Vergangenheit immer wieder Kristallisationspunkt ritueller Randale nach friedlichen Straßenfesten gewesen. Ein starkes Symbol zwar, aber eines, dessen Zukunftsideen sicherlich nicht weit ausstrahlen.

Doch Widerstand ist Ehrensache, wenn man länger zwischen Altonaer Straße/Max-Brauer-Allee, Stresemannstraße und dem früheren Schlachthof wohnt. Widerstand gegen den Umbau des Viertels. Man möchte nicht ständig überlegen, ob der neue Klamottenladen, Imbiss oder Coffeeshop noch Szene ist oder schon Gentrifizierung, Aufwertung des Stadtteils mit gleichzeitig explodierenden Mieten und der Vertreibung der bisherigen Bewohner.

Sushi statt Döner

Viel ist da passiert in den vergangenen 15 Jahren. Etwa die Generalsanierung der alten Fabrik hinter der Einfahrt am Schulterblatt 58 Mitte der 90er-Jahre zum stylischen Backstein-Ensemble für Dutzende junger Multimedia-Agenturen, Werbe- und Softwarefirmen. Kneipen und Imbisse werden schicker, Sushi-Bars schieben sich in die alte Döner-Kultur. Schnellsprech-Koch Tim Mälzer konnte seine "Bullerei" an der Schanzenstraße platzieren, während der Schanzen-Ur-Grieche Olympisches Feuer bereits 2004 dem Jesus-Center weichen und am Schulterblatt umziehen musste. In der Juliusstraße wurde ein großes Backpacker-Hostel eröffnet.

Noch gibt es Läden wie am Schulterblatt den Schoki- und Tee-Tempel Stüdemann, die Zoo-Handlung Dabelstein, die Kafferösterei und Bar kopiba Beim Grünen Jäger, in der Sternstraße Erika's Eck oder in der Schanzenstraße die Messerexperten von Jürges. Noch gibt es auch Antiquitätenläden, Buchhandlungen und Musik-Fundgruben, in denen sich wunderbar stöbern lässt.

Immer mehr Boutiquen und Outlets

Noch ist Platz im Schanzeniertel für ein Astro-Café, für alternatives Biedermeier in der Konditorei Herr Max, das Hinterhof-Kino 3001 oder das Ensemble Resonanz, das im Kulturhaus 73 neben der Flora probt und seine "urban string"-Konzerte spielt; dort gibt es auch Theater, Musik und das Kaltstart-Festival.

Mode-Boutiquen und Outlets rücken derweil auf so breiter Front vor, als wollten sie den In-Klamotten-Bedarf der gesamten Republik decken. Aus Essen, Trinken und Shoppen formt sich das mentale Bermuda-Dreieck der meisten Schanzen-Gucker; die Haspa an der Ecke Juliusstraße kann vermutlich allein mit den Gebühren aus ihren drei Geldautomaten die Miete ihrer Filiale finanzieren.

+++ Der Stadtteil-Pate: Hans-Juergen Fink +++

Das Viertel verändert sich, selbst McDonald's hat 2009 im Sternschanzenbahnhof Fuß gefasst. Derzeit scheint die Schanze zu balancieren zwischen einer profitorientierter Erneuerung und der Suche nach Alternativen dazu. Ob und wie das fragile Schanzen-Flair zu retten ist? Die Einwohner haben da schon Ideen. Gefragt werden jedoch sie selten.

In der nächsten Folge am 16.4.: Stellingen