Hamburg. Sein Urgroßvater gründete 1878 das Geschäft. Dank Sönke Christiansen und seiner Frau Nicole lebt die Tradition in Ottensen weiter.

Als Hinrich Friedrich Theodor Christiansen, damals 26 Jahre jung, am 1. April 1878 ­seine „Lehrmittelagentur“ an der Bahrenfelder Straße in Ottensen eröffnet, sind es nur knapp sechs Wochen, bis eine Meldung das Deutsche Reich erschüttert: Max Hödel, ein Klempnergeselle, feuert am 11. Mai 1878 in Berlin auf die Kutsche mit Kaiser Wilhelm. Alle Schüsse verfehlen das Ziel. Doch drei Wochen später wird der Monarch bei einem erneuten Attentat schwer verletzt, Reichskanzler Otto von Bismarck verfolgt die Sozialdemokratie mit Sozialistengesetzen.

Die Lehrmittelagentur, die schon bald als Buchhandlung firmiert, übersteht die stürmischen Zeiten ebenso wie den Ersten Weltkrieg. Die Bomben der Operation Gomorrha legen zwar im Juli 1943 das Wohn- und Geschäftshaus in Schutt und Asche, doch die Familie überlebt. Vier Jahre nach Kriegsende duckt sich ein schmaler, zweigeschossiger Neubau vis-à-vis dem Spritzenplatz. Alte und neue Heimat der inzwischen ältesten Buchhandlung der Hansestadt, die sich ununterbrochen im Familienbesitz befindet.

Bücher müssen durch Klappe gereicht werden

An einem kalten Wintertag bittet Sönke Christiansen (58) zum Gespräch in den ersten Stock. Ein Büro, eine Küche, ein Aufenthaltsraum und – wie könnte es anders sein – Berge von Büchern. In vierter Generation führt der Buchhändler nunmehr das Geschäft, zusammen mit seiner Frau Nicole (57).

Natürlich verbietet sich jeder Vergleich dieser Pandemie mit den Wirren des Kaiserreichs, dem Niedergang der Weimarer Republik und erst Recht mit dem Terror des Nazi-Regimes. Dass die Zeiten aber gerade sehr besonders sind, zeigt die Klappe, durch die die Bücher gereicht werden. Im Geschäft bleiben die Bücherstapel unberührt, Christiansens Kolleginnen und Kollegen arbeiten die Bestellungen ab: Corona erlaubt nur das Abholen und Bezahlen bestellter Bücher.

Nur noch telefonische Beratung möglich

„Unsere Kunden beraten, also das machen, wofür wir unseren Beruf eigentlich gelernt haben, dürfen wir nur noch telefonisch, nicht im direkten Kundenkontakt“, sagt Sönke Christiansen. Andererseits ist er heilfroh, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Einzelhändlern nicht ganz schließen muss.

Wer den hochgewachsenen, bescheiden und freundlich auftretenden Unternehmer kennenlernt, würde nicht denken, dass er den Umgang mit Krisen und Herausforderungen schon sehr früh gelernt hat. Lernen musste.

Seine Frau lernte er durch den Beruf kennen

Es ist 1990, unmittelbar nach der Wiedervereinigung, als die Bonner Buchhandlung Bouvier den damals 28-jährigen Sönke Christiansen nach Ostberlin schickt. Der Assistent der Geschäftsleitung soll die Kollegen in den neu gepachteten Buchhandlungen der ehedem geteilten Stadt fit machen für den westdeutschen Buchhandel: „Für mich war das eine extrem prägende Zeit, weil ich erlebt habe, was mit einer Firma passiert, wenn man nicht rechtzeitig reagiert“, sagt Christiansen. Denn die vom Inhaber erhoffte Goldgräberstimmung mit blühenden Landschaften verfliegt schnell.

Statt Bücher zu kaufen, investieren viele Ostberliner die neue D-Mark lieber in Reisen. Sinkende Umsätze, steigende Mieten, wachsende Personalkosten münden am Ende in die Insolvenz. Dass Christiansen, der nach dem Abitur in Heidelberg seine Ausbildung absolvierte, das Abenteuer Berlin dennoch in bester Erinnerung hat, liegt an einer Personalentscheidung. Er suchte für eine neue Filiale in Spandau eine Leiterin. Den Job bekam eine ehemalige Philosophie-Studentin, die sich aber dann für den Beruf der Buchhändlerin entschieden hatte. Die Zusammenarbeit mündete auch ins private Glück.

„Im ersten Jahr nach Eröffnung des Mercados haben wir 50 Prozent unseres Umsatzes eingebüßt“

Mit der 1993 geborenen Tochter Stella zogen die Christiansens 1994 nach Ottensen, eine Heimkehr für Sönke Christiansen, ein Neustart für seine Frau Nicole. Günther Christiansen, der die Buchhandlung in dritter Generation führte, hatte signalisiert, dass er das Geschäft gern in jüngere Hände legen wollte – auch angesichts der drohenden neuen Konkurrenz in unmittelbarer Nachbarschaft. Denn nur wenige Schritte entfernt entstand das Einkaufszentrum Mercado mit der Filiale einer großen Buchhandlung über zwei Etagen als Ankermieter.

„Im ersten Jahr nach Eröffnung des Mercados haben wir 50 Prozent unseres Umsatzes eingebüßt“, sagt Sönke Christiansen, der auch langjährigen Mitarbeitern kündigen musste, um die Buchhandlung zu retten: „Das tat richtig weh.“ Zum Glück liefen die Buchhandlungen, an denen er sich etwa in Stade und Cuxhaven beteiligt hatte, deutlich besser und halfen das Minus auszugleichen. Doch nur drei Jahre später machte sich ein neuer Rivale auf, um den Buchhandel aufzumischen. Am 15. Oktober 1998 ging die Website von Amazon online. Der Beginn des Siegeszugs des Internet-Giganten, der so vielen Einzelhändlern inzwischen den Garaus gemacht hat.

Spagat zwischen Tradition und Modernisierung

Wie konnte Christiansen wirtschaftlich überleben? „Dies haben wir in erster Linie meiner Frau zu verdanken“, sagt der Chef. Ihr sei so etwas wie die Quadratur des Kreises gelungen. Die Tradition bewahren, das Geschäft im Stadtteil verankern - und zugleich mit einem professionellen Online-Auftritt für den Aufbruch in eine neue Zeit sorgen.

Ganz Ottensen liebt den kleinen, gerade 90 Quadratmeter großen Laden. Mit Lesungen, mit Literaturkreisen – es gibt sogar extra einen für Jungs – und mit der Chance, abends nach Geschäftsschluss für nur 79 Euro mit einer Gruppe von bis zu zwölf Buchliebhabern mal ungestört schmökern zu können, inklusive Prosecco und Knabberzeug. Wobei all diese Aktionen derzeit durch die Pandemie pausieren müssen.

Leidenschaft für Bücher bildete Grundstein

Natürlich hält man eine solche Mission ohne Leidenschaft für das gedruckte Werk kaum aus. Wie seine Frau hat auch Sönke Christiansen Bücher in seiner Jugend förmlich verschlungen – auch vor vielen Jahren bei den Segeltörns mit seinen Eltern: „Andere Familien saßen im Restaurant am Tisch und haben sich unterhalten. Wir hatten jeder das eigene Buch dabei und haben erst aufgehört zu lesen, wenn das Essen serviert wurde.“

Auch heute steckt Sönke Christiansen immer ein Buch ein, wenn er bei einem Termin mit Wartezeit rechnen muss. Doch der Buchhändler ist ein ungeduldiger Leser: „Wenn mich ein Buch nicht auf den ersten zehn Seiten packt, lege ich es wieder zur Seite.“

Lieblings-Schriftsteller: Fontane, Murakami und Harari

Zu seinen Lieblings-Schriftstellern zählen neben Theodor Fontane – „ich liebe seinen Sprachwitz“ – insbesondere der Japaner Haruki Murakami und der israelische Historiker Yuval Noah Harari. In die Frage, was besonders prominent auf den Büchertischen präsentiert werden soll, mischt er sich jedoch kaum ein: „Dafür haben meine Kolleginnen und Kollegen ein gutes Gespür.“

Woanders liegen die Bücher nach Bestseller-Listen geordnet, allen voran „Der Heimweg“ von Sebastian Fitzek und „Der neunte Arm des Oktopus“ von Dirk Rossmann. „Bei uns sind Thriller nicht so gefragt“, sagt Christiansen. Stattdessen stapeln sich hier Bücher von Delia Owens („Der Gesang der Flusskrebse“) oder Joachim Meyerhoff („Hamster im hinteren Stromgebiet“).

Besitzer von 36 Hektar Wald in Mecklenburg

Dem Wassersport ist Sönke Christiansen treu geblieben, mit dem in Wedel liegenden Dickschiff „Stromtied“ zieht es ihn oft auf die Ostsee, nach Helgoland oder zu den Ostfriesischen Inseln. Vor zehn Jahren konnte er durch eine Erbschaft 36 Hektar Wald in Mecklenburg erwerben. „Ich will den Wald unter ökologischen Gesichtspunkten weiterentwickeln“, sagt er. Weg vom reinen Kiefernbestand, hin zu einem echten Mischwald. In der Nähe hat er einen Resthof gekauft. Eine neue Heimat für den Ruhestand? Christiansen schüttelt den Kopf: „Nein, nicht ausschließlich, das wäre uns zu einsam.“

Was fast zwangsläufig zu dieser Frage führt: Bleibt die Buchhandlung auch in der fünften Generation im Familienbesitz? Oder endet diese inzwischen fast 144 Jahre währende Tradition, gekrönt mit Auszeichnungen wie dem Hamburger Buchhandlungspreis 2014, in absehbarer Zeit? „Noch ist keine Entscheidung gefallen“, sagt Sönke Christiansen. Sohn Henry, 1997 in Hamburg geboren, zeigt derzeit keine Ambitionen. Er ist leidenschaftlicher Koch, lernt dieses Handwerk im Hotel Atlantic.

Wer die Buchhandlung mal übernimmt, ist noch ungeklärt

Die Übergabe des Geschäfts an Tochter Stella, die nach ihrem Studium in Freiburg, Shanghai und Oxford für einen großen Verlag in München arbeitet, bleibt dagegen eine Option. „Aber wir werden sie nicht drängen“, verspricht Sönke Christiansen.

Vielleicht kristallisiere sich auch aus dem Team ein möglicher Nachfolger heraus. Innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre wollen die Christiansens diese Frage für sich klären. „Natürlich können wir noch weitere acht oder zehn Jahre weitermachen. Aber die Frage bleibt, ob wir dann noch die richtigen Akzente setzen, damit die Buchhandlung auch weiterhin so gut positioniert bleibt.“

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Aktuell allerdings fiebert Sönke Christiansen dem Tag entgegen, wo er wieder regulär öffnen darf – und das echte Leben in den Laden zurückkehrt. Mit Lesungen, mit Literaturkreisen. Und Kunden, die wieder fragen, welches Buch gerade am besten zu ihnen passt.