Hamburg. 500 Pfund schwerer Blindgänger im Szeneviertel gefunden. Gebäude im Umkreis evakuiert. Nicht alle Menschen gehen freiwillig.


Der Großeinsatz beginnt mit einem einzelnen roten Absperrband. Zwei
Streifenpolizisten schirmen die Baustelle am Schulterblatt 1 ab,
aber die wenigsten Passanten im Schanzenviertel nehmen Notiz. Sie
trinken Kaffee, klönschnacken, gehen vorbei. Ein einzelner
Radfahrer bleibt stehen. „Eine Bombe? Oha. Na, denn man to“, sagt
er und tritt in die Pedalen. Einige Stunden später wird das
Schanzenviertel kurzzeitig wie eine Geisterstadt daliegen, die Lage
auf den Hauptverkehrsstraßen angespannt sein – und Experten der
Feuerwehr in den gefährlichen Einsatz gegen 120 Kilogramm
Sprengstoff ziehen. Bei Bauarbeiten war am Dienstagvormittag ein
Blindgänger am Schulterblatt 1 entdeckt worden.

Eigentlich ein
Routineeinsatz, doch nur selten müssen Entschärfungen mitten in der
Innenstadt vorgenommen und 1400 Menschen in Sicherheit gebracht
werden. „Es ist ein aufwendiger Einsatz“, sagt ein
Feuerwehrsprecher. Ein Tag in Hochspannung. Als die Arbeiter mit
der Baggerkralle auf die Bombe stoßen, stellen sie sofort alle
Geräte ab und alarmieren die Behörden.

500-Pfund-Bombe

Der Sprengkörper wiegt
insgesamt etwa 500 Pfund, er hat einen sogenannten Aufschlagzünder,
der beim Abwurf im Zweiten Weltkrieg nicht ausgelöst hat. „Der
Blindgänger ist stark deformiert“, sagt Feuerwehrsprecher Torsten
Wesselly. Klar ist: Die Entschärfung muss vor Ort geschehen.
Ausgerechnet vor dem Haus, das schon während des G-20-Gipfels als
Keimzelle der schlimmsten Krawalle bundesweit bekannt wurde, rücken
erneut Kräfte von Feuerwehr, Polizei und Hilfsorganisationen an.

Die Experten richten sich am Mittag ein provisorisches Lagezentrum
vor dem Bunker an der Feldstraße ein, schätzen die Gefahr ab, was
bei einer Detonation drohen würde. Wenig später steht fest: In
einem Radius von 150 Metern um die Fundstelle müssen alle Gebäude
evakuiert werden, innerhalb der doppelten Entfernung gilt die
Warnstufe und eine Ausgangssperre. Also liegen mehrere heikle
Objekte im Einsatzgebiet, etwa eine Kita, ein Altenheim, diverse
Restaurants und die Lerchenwache. Eine Hundertschaft der Polizei
rückt am Neuen Pferdemarkt an, sie soll die Anwohner, Kunden und
Gewerbetreibenden vorwarnen.

Ermahnung nötig

Einige Händler diskutieren schon am
Tresen mit ihren Mitarbeitern. Von dem Blindgänger haben
mittlerweile alle gehört, aber niemand weiß so recht, wie es
weitergeht. „Vielleicht kommt ja mal jemand und sagt noch Bescheid,
das wäre ja ganz nett“, sagt eine Mitarbeiterin in einem
Optikgeschäft ironisch, ansonsten wird die Sache mit Gelassenheit
genommen. Auch die Stresemannstraße wird gesperrt.  Schließlich
beginnen um 14.05 Uhr die Polizisten mit ihrem Streifzug durch
jeden Hauseingang. „Das kann doch nicht euer Ernst sein!“, brummt
der Verkäufer in einem Handygeschäft; es braucht eine deutliche
Ermahnung, dass die Evakuierung nicht nur eine Empfehlung ist.

Viele Straßen gesperrt

Gut
gekleidete Damen aus den Nebenstraßen befragen währenddessen
freundlich jeden greifbaren Beamten, ob sie das Gebiet verlassen
müssen oder in ihren Wohnungen ausharren dürfen. Die Polizei sperrt
ganz oder teilweise mehrere Straßen im und am Schanzenviertel,
darunter die Stresemannstraße, die Schanzenstraße, den Neuen
Pferdemarkt und das Schulterblatt.

Notunterkunft in Schule

 Auch der öffentliche Nahverkehr
ist betroffen: So endet die Buslinie 6 an der Haltestelle St.
Pauli; am U-Bahnhof Feldstraße (Linie U 3) dürfen keine Fahrgäste
ein- oder aussteigen, die Bahn fährt durch. Nach etwa einer halben
Stunde ist ein Großteil des Gebiets bereits evakuiert; die Beamten
aus der Lerchenwache kommen bei ihren Kollegen in der Domwache
unter; die Erzieher haben die Eltern der Kita-Kinder
benachrichtigt. In einer Schule in Altona hat die Stadt vorsorglich
eine Notunterkunft vorbereitet. „Teils haben sich die Anwohner
sofort zu den bereitgestellten HVV-Bussen begeben, um dorthin zu
fahren“, sagt Feuerwehrsprecher Wesselly.

Angespannte Verkehrslage

Einige Anwohner müssen
jedoch erst noch mit Nachdruck dazu gebracht werden, ihre Wohnungen
zu räumen. Derweil bereitet sich Sprengmeister Burkhard Mantsch mit
seinem Team bereits auf die Entschärfung vor. Die Nachricht von dem
Blindgänger hatte Sorgen vor einem Verkehrskollaps ausgelöst.
Tatsächlich ist gegen 16 Uhr die Verkehrslage auf den
Ausweichrouten rund um den Fundort „angespannt“, sagt ein Beamter
der Verkehrsleitzentrale. Auf der Altonaer Straße stockt der
Verkehr, ebenso auf der Glacischaussee und der
Simon-von-Utrecht-Straße. Aber einen „Infarkt“ gebe es nicht, heißt
es, dafür fließe der Verkehr über die Ausweichrouten dann doch zu
gut ab.

Kein Chaos

Obwohl mehrere große Straßen und Hauptverkehrsrouten am
Neuen Pferdemarkt zusammenlaufen oder sich dort kreuzen – die B 4
(Budapester Straße), die Stresemannstraße und der Neue Kamp –, kann
von Chaos auf den Straßen kaum die Rede sein. Um 16.12 Uhr ist die
Zone um den Bomben-Fundort so menschenleer, dass sich Burkhard
Mantsch und seine Kollegen an die Arbeit machen können. Sie tragen
nur ihre üblichen Dienstoveralls – ein dicker Schutzanzug würde sie
nur in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken, aber im Fall einer
unkontrollierten Explosion ohnehin nicht genug Schutz bieten, heißt
es von der Feuerwehr. Der Blindgänger auf der Baustelle war vorher
bereits mit technischen Geräten untersucht worden.

Entwarnung um 16.50 Uhr

Nun drehen die
Entschärfer den Zündmechanismus vorsichtig von der Bombe ab. Eine
heikle Aufgabe. Der Heckzünder der Fliegerbombe britischer Art ist
stark beschädigt und bereitet den Experten Probleme. Aber
Einsatzleiter Mantsch ist ein Routinier, seit mehreren Jahrzehnten
für den Kampfmittelräumdienst im Einsatz. Bereits gegen 16.50 Uhr
ist es geschafft. Keine Gefahr mehr! Alle atmen auf. Der
Blindgänger wird beim Abtransport noch gefilmt, die Entschärfer
lächeln in die Kameras. Kurz darauf sind auch die Sperrungen rund
um das Schulterblatt Vergangenheit, die Anwohner kehren zurück in
ihre Wohnungen. Bereits am Abend füllen sich wieder wie immer die
Restaurants und Bars am Schulterblatt – als hätte es dort nie eine
Bedrohung gegeben.