Hamburg. Vor 25 Jahren erstrahlten die Zeisehallen in neuem Glanz. Ein lange umstrittenes Projekt, das heute als Meilenstein gilt.

Wer heute durch Ottensen oder die Zeisehallen schlendert, benötigt viel Fantasie oder, besser noch, eine Zeitmaschine, um zu erahnen, wie es hier vor wenigen Jahrzehnten aussah. Der raue Charme eines Industriedenkmals, angesagte Restaurants, ein beliebtes Kino, kleine Läden und Büros – das hätte vor 40 Jahren kein Mensch für möglich gehalten. Damals war Ottensen Indus­triequartier. „Spärlich schien in Mottenburg früher das Licht, in den engen Treppenhäusern und Wohnungen, und wohin es auch fiel, alles war eng, und durch enge Straßen führten Gleise in Fabriken, die Lokomotivführer kamen mit ihren Loks jeden Tag ein paar Mal an ihren Wohnungen vorbei.“ So schrieb Ben Witter 1972 über Ottensen.

Ein Jahrzehnt später klang das anders: „Wer erhobenen Hauptes durch die engen, düsteren Straßen geht, tritt leicht in Hundehäufchen. Vereinsamte Alte, verwahrloste Junge und kinderreiche Türkenfamilien wohnen hier. Ein Arme-Leute-Viertel, heute wie vor hundert Jahren, als hier die Hinterhof-Fabriken entstanden“, schrieb die „Zeit“.

Krise raffte auch große Namen dahin

In jenen Jahren erlebte der Stadtteil nicht Strukturwandel, sondern Strukturbruch. Ende der 70er-Jahre schloss eine Fabrik nach der anderen, die Krise raffte auch große Namen wie Menck & Hambrock und Zeise dahin: Am 26. Juli 1979 beantrage die Schiffsschraubenfabrik Theodor Zeise nach 111 Jahren Konkurs. „Damals verloren Hunderte von Ottenser Arbeitern in kürzester Zeit ihren Job“, erinnert sich Peter Jorzick. „Die Menschen wohnten neben den Fabriken und zogen schlagartig fort.“

Jorzick kennt den Stadtteil wie kaum ein Zweiter. Anfang der 80er-Jahre startete er mit Mitstreitern die erste alternative Projektentwicklung, den Ottenser Werkhof; später wurde er geschäftsführender Gesellschafter des Hamburger Medienhauses, heute ist er Geschäftsführer bei Hamburg TEAM. Alternative, Studenten, Lebenskünstler und Weltverbesserer entdeckten damals die Chancen im Wandel und wurden unfreiwillig zum Motor der Gentrifizierung in Ottensen. Alte Fabriken verstanden sie als Freiräume, heruntergekommene Häuser als Lebensräume, die Trümmer der alten Welt als Baustoffe einer neuen, besseren Welt. „Damals boten die Fa­brikhallen in Ottensen große Räume für große Träume“, erinnert sich Peter Jorzick.

Stadt erwarb den Gebäudekomplex

Über eine Zwangsversteigerung erwarb die Stadt den Gebäudekomplex. In den Verwaltungstrakt zog 1980 das Hamburger Filmhaus ein. Der damalige Chef der Filmförderung, Dieter Kosslick, wollte das Zeise zum Kulturstandort entwickeln. Aus den Büros der Firma wurde ein Kommunikationszentrum mit Schneideräumen, Tonüberspielung, Videostudio, Gerätepool und Vorführraum. Der ehemalige Konferenzraum der Schiffsschraubenfabrik verwandelte sich bald in die Filmhauskneipe.

Die alten Fertigungshallen aber rotteten trotz Denkmalschutzes vor sich hin. 1985 sorgte eine Idee der Theatermacher Wolfram Moser und Ulrich Waller für Aufsehen. Sie wollten die Hallen mit dem Stück „Störtebeker“ bespielen, weil sie in ihrem Zustand ideal dafür seien. „Wir werden inmitten der Trümmer spielen, inmitten des Abfalls. Die Atmosphäre der Hallen unterstützt dramaturgisch die Endzeitstimmung unseres Projekts“. Die Kulturbehörde bremste so viel Kreativität, fürchtete sie doch eine zweite Besetzung wie auf Kampnagel. 1986 wurde ein Wettbewerb zur Neugestaltung der Hallen ausgeschrieben, der Projektentwickler Procom übernahm.

Gegner zerstörten Scheiben und Restaurants

In mehreren Bauabschnitten zog neues Leben in die alten Hallen. Zwischen 1986 und 1987 entstand im alten Kontorhaus der Firma das Medienhaus, dessen Geschäftsführer Jorzick wurde. Dort zog auch das Café Leopold ein, das erste Restaurant von Christian Rach. 1988 verwandelte sich ein Teil der alten Fabrikhalle in das dort immer noch ansässige Restaurant Eisenstein. Die ehemalige Gießhalle beherbergte kurz einen Supermarkt, der bald aufgeben musste. Schließlich zog 1992 das Institut für Theater der Universität ein.

Die Zeisehallen bekamen mit Kino und einer Ladenpassage ihren krönenden Abschluss. „Der Ausbau der Zeisehallen ist nicht nur von großer Bedeutung für die Film- und Medienstadt Hamburg, sondern macht diese zu einem weiteren städtebaulichen Glanzpunkt für den lebendigen Stadtteil Ottensen“, lobte Kultursenator Ingo von Münch 1989. Das sahen damals manche anders. Immer wieder machten Modernisierungsgegner ihrem Unmut Luft, warfen Fensterscheiben ein, besetzten und verwüsteten die Restaurants und bedrohten die Macher, 1988 debattierte die Bezirksversammlung Altona über „Autonomen-Terror“.

1993 wurde die Kritik leiser

Nach der Fertigstellung 1993 wurde die Kritik leiser. Hier entstand eben kein Tempel für Besserverdienende, keine Glitzermeile, sondern eine Mischung aus Kinos, Kindergarten und Bücherhalle, Cafés und Restaurants. Ein Ort, der seine Geschichte nicht verbirgt, sondern herausputzt: Das Mauerwerk liegt offen, in Fußböden sind Gussformen und Gleise erhalten, ein Schornstein steht als Torso im Raum. Damals wähnten manche Kritiker „Zeitgeist-Architektur“. Welch ein Irrtum. Es ist eine Architektur, die zeitlos ist und 1993 genauso attraktiv wirkte wie 25 Jahren später – auch wenn der Ladenleerstand im Zeitalter von Amazon auch das Zeise trifft.

Das Wunder von Ottensen wäre nicht möglich gewesen ohne die Kreativität des Investors und des Architekturbüros me di um, ohne die finanzielle Unterstützung der Stadt und eine erfolgreiche Bespielung der Hallen. „Die Zeisehallen haben Ottensen revitalisiert“, sagt auch Jorzick. Und im Frühjahr soll sogar ein Klassiker der ersten Stunde ins Zeise kommen: ein Supermarkt