Altona. Die virtuelle Jagd auf animierte Monster erobert die Smartphones der Welt – und Hamburgs wohl beliebtesten Aussichtsplatz an der Elbe.

„Wir sind hier, bis die Akkus alle sind“, sagt Katrin, ohne den Blick von ihrem Smartphone zu heben. Die 36-Jährige steht auf einem der beliebtesten Ausflugsplätze Hamburgs, doch von ihrer Umwelt nimmt sie wenig wahr. „Die Aussicht kenne ich schon.“ Hier am Altonaer Balkon geht es jetzt um etwas anderes: Er ist zum Mekka für Pokémon-Spieler avanciert.

Jeden Tag pilgern Hunderte Anhänger des Spiels auf den Elbhang. „Das ist der beste Pokémon-Spot in Norddeutschland“, meint Dennis. Auch er ist nicht zum ersten Mal hier. Der beeindruckende Elbblick kann da nicht mithalten.

Die Masse wirkt wie ferngesteuert

Mit dem Panorama im Rücken sitzen, gehen und stehen Hunderte Menschen auf der Plattform. Gesenkter Blick, das Smartphone fest im Griff. Die Masse wirkt wie ferngesteuert. Und es sind keineswegs nur Jugendliche, die der virtuellen Jagd nach Pokémons verfallen sind. „Mein Vater ist hier ganz oft“, sagt der zwölfjährige Emil. „Er hat mich angesteckt.“ Dennis Behrens, Emils Vater, lächelt verschämt.

Er sei bereits an den vergangenen drei Abenden zum Altonaer Balkon gekommen, um Pokémons zu jagen. Die Aussicht? Nebensache. Auch die 46-jährige Magallys hat ihre beiden Kinder auf den begehrten Platz aufmerksam gemacht. „Ich hatte die Idee herzukommen, nicht die Kinder“, sagt sie lachend. Von Elbe, Schiffen und Köhlbrandbrücke bekommt auch sie allerdings nur wenig mit. „Leider ist der Blick gesenkt“, sagt sie.

Warum dann ausgerechnet der Altonaer Balkon? „Ganz einfach. Hier befinden sich vier Pokéspots direkt nebeneinander, das ist sehr selten“, erklärt der 18-jährige Emre. Wo viele Pokéspots aufeinandertreffen, da können auch mehr Pokémons angelockt werden. Dem Ziel des Spiels, möglichst viele verschiedene der digitalen Monster zu fangen, kommt man hier also bedeutend näher. So weit die Theorie. In der Praxis führt es dazu, dass der mitgebrachte Campingstuhl auch einfach mal mitten auf dem Gehweg, mit dem Rücken zur Elbe aufgestellt wird. Grill inklusive.

„Das Grillen geht nebenbei“, sagt Andre, der auf seinem Tablet herumtippt, während er das Fleisch wendet. Den Platz hat die Gruppe strategisch ausgewählt. „Hier befinden wir uns genau in der Mitte der vier Spots“, erklärt Andres Freundin Katharina. „Es ist eigentlich egal wo, wir würden uns überall hinsetzen“, meint die 23-jährige Egzona, die den beiden gegenübersitzt und es versteht, Essen und Spielen in Einklang zu bringen.

Sorgt das Spiel für mehr Bewegung?

Multitaskingfähig sind hier die meisten. Das sollte man auch sein, denn um eine der begehrten Kreaturen zu erwischen, muss man seinen Standort auch mal verlassen. Eine Gruppe 15-jähriger Jungen ist deshalb mit dem Fahrrad vor Ort. „Dann kommen wir schneller zu den Guten“, sagt einer von ihnen, bevor alle davonrasen, weil am unteren Elbhang ein besonders seltener Pokémon gesichtet wurde.

Am Altonaer Balkon tummeln sich aber so viele, dass man auch im Sitzen Erfolge erzielen kann. Dass sich das Spiel durchaus auch positiv auf den Körper auswirken kann, weiß Dennis Behrens aus eigener Erfahrung. „Ich war eine richtige Couchpotato“, meint der 48-Jährige. Durch das Spiel würde er sich viel mehr bewegen. „Dadurch bin ich schon mal zehn Kilometer gelaufen.“

Wer in diesem Spiel weiterkommen will, der muss vor die Tür. Behrens findet das gut. Sein Sohn säße dadurch viel weniger vor dem Computer. Auch Emre und seine Freunde gehen häufiger an die frische Luft, seit sie Pokémons jagen. „Man sitzt nicht mehr stundenlang zu Hause“, sagt der 18-Jährige und fügt einen weiteren positiven Effekt hinzu: „Dadurch habe ich Hamburg viel besser kennengelernt.“ Das sieht auch Egzona so: „Ich wusste vorher nicht mal, dass das hier existiert.“

Neue Freunde durch das Spiel

Und was ist mit der Kommunikation? Lässt man seinen Blick über das Plateau schweifen, eröffnet sich einem ein skurriles Bild. Menschen stehen in Grüppchen zusammen, haben aber alle wenig Augen für ihre Umwelt. Paare, Familien, Freunde. Egzona hat eine Erklärung dafür: „In der Gruppe bringt es mehr Spaß, da fühlt man sich nicht so bescheuert.“ Katrin meint: „Wir unterhalten uns auch.“ Also manchmal.

Von außen macht es zwar nicht den Anschein, aber das Spiel bringt sogar Menschen zusammen. „Man kommt leichter ins Gespräch“, sagt Felix, der mit dem Rücken am Balkongeländer lehnt. Soufien, der neben ihm steht, habe er heute erst kennengelernt. Und auch Regzona und ihre Begleiter haben sich durch Pokémon Go gefunden. Dennis Behrens freut sich darüber, dass er und sein Sohn durch das gemeinsame Spielen mehr Zeit miteinander verbringen. An diesem Abend sind sie seit einer Stunde unterwegs, aber auch bei ihnen ist der Ausflug vorbei, wenn der Akku schlapp macht.

Und dann? „Gehen wir was trinken“, sagt Janika, die mit Katrin und einem weiteren Arbeitskollegen auf der Jagd ist. Die 22-jährige Katharina, die mit den anderen grillt, hat vorgesorgt und ihre Power Bank, ein mobiles Ladegerät, gleich mitgebracht.

Am Ende ist sogar die Aussicht doch noch von Belang. „Manchmal gucken wir auch hoch“, sagt Andre.