Hamburg. Die 100-Jährigen: Folge 4 der Serie. Seit 1909 besteht die Fleischerei Meinert im Stadtteil Blankenese.

Alles eine Frage der Definition. Ob die Fleischerei in dritter oder vierter Generation betrieben wird? Otto Meinert, 62, wiegt den Kopf hin und her. Komme drauf an, sagt er schließlich. Worauf? Na, auf die Definition. Und die liefert er dann gleich selbst: „Hier in Blankenese gibt es die Fleischerei seit 1909 und drei Generationen, davor hat mein Ur-Großvater aber schon an einem anderen Standort eine Fleischerei betrieben“, sagt Meinert. Also könne man ruhig sagen, dass er den Betrieb in vierter Generation betreibe. Auch wenn er selbst nicht in Generationen rechnet, sondern in Jahren. „Als wir 100-jähriges Jubiläum hatten, hab ich gesagt, wir feiern unseren 300-sten. Weil es das Haus, die ehemalige Dorfschule von Dockenhuden, seit 200 Jahren gibt.“ Auch eine Art von Definition.

Otto Meinert sieht aus wie aus dem Ei gepellt. Weiße Hose, rote Kochjacke. Clogs statt Gummistiefeln. Alles makellos. Sauber. Nahezu rein. Nirgendwo ein Spritzer Blut, wie man es bei einem Schlachter vielleicht vermuten könnte. Meinert lacht, wenn er darauf angesprochen wird. Er kennt die Klischees. Dann wird er ernst. Erzählt, dass er schon seit Jahren nicht mehr selbst schlachtet. Seit es neue EU-Vorschriften gebe und diese für ihn nicht umzusetzen gewesen seien. „Hatten zu wenig Platz, um all die Auflagen zu erfüllen“, sagt Meinert.

Und er sei kein Einzelfall: Inzwischen gebe es in Hamburg nur noch drei Schlachter. Zeit für noch eine Definition: „In Hamburg sagt man zwar noch Schlachter, eigentlich sind es aber Fleischer“, sagt Meinert, der stellvertretender Obermeister der Fleischerinnung Hamburg ist. Er selbst hat das Schlachten noch gelernt, als er Ende der 60er-Jahre im väterlichen Betrieb in die Lehre gegangen ist. War Pflicht damals. Heute sei das kein fester Bestandteil mehr der Ausbildung, sondern lediglich eine sogenannte Wahlqualifikationseinheit.

An dem Stammsitz befindet sich unten der Laden, oben die Wohnung

„Ich wollte schon als Kind Fleischer werden“, sagt Meinert und erzählt diese Anekdote, wonach er sich als kleiner Butjer angeblich immer ein Ferkel gewünscht habe. Ein kleines. Damit er es selbst schlachten könne. Alles eine Frage der Einstellung. Des Lebensweges. Der Prägung. „Für mich ist das normal, ich bin so groß geworden“, sagt Meinert. Er ist nach seinem Vater und den Großvätern benannt. Otto, Berthold, Heinrich. Sein Vater Otto Meinert, der durch seine Hochzeit mit Erna in den Fleischereibetrieb von Berthold Hebenstreit einheiratete.

Genau jener Berthold Hebenstreit, der 1909 in der ehemaligen Dorfschule von Dockenhuden seine Fleischerei eröffnete. Es ist das Jahr, in dem Wilhelm II. Kaiser von Deutschland ist. In dem der US-Amerikaner Robert Edwin Peary nach eigenen Angaben als erster Mensch den Nordpol erreicht haben soll. In dem zum ersten Mal die Chemotherapie zum Einsatz kommt. Heinz Erhard und Bernhard Grzimek geboren werden.

Mehr als 100 Jahre sind seitdem vergangen. Die Besitzer haben gewechselt, der Standort an der Elbchaussee 530 ist geblieben. Jenes denkmalgeschützte Haus, in dem Erna Heben­streit zur Welt kam. Und in dem auch ihr Sohn Otto Meinert geboren wurde. Er hat das Haus inzwischen gekauft, lebt bis heute dort. Unten der Laden, nur 15 Quadratmeter groß. Oben die Wohnung. Das war schon immer so. „Früher haben wir hier zu acht gewohnt. Meine Großeltern und meine Eltern, meine Schwester und ich. Außerdem ein Geselle und ein Lehrling“, zählt Otto Meinert auf.

Er sitzt in der Küche, wo früher die „gute Stube“ war. „Da stand das Sofa, hier ein Aktenschrank, auf dem später ein Fernseher stand“, sagt er und zeigt mal hierhin und mal dorthin. Im Nebenzimmer, wo heute das Büro ist, war einst ein Tabakladen. An der Wänden hängen Meisterbriefe, Urkunden, Auszeichnungen. Alte Fotos. Fotos von Otto Meinert als kleinem Jungen, mit Zahnlücke und gebundener Fliege, im Jahr 1959 anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Fleischerei. Fotos von seinen eigenen Kindern. Maximilian, 27, Elisabeth, 26, Sophia, 25, und Simon, 15. Ihre Initialien stehen am Türrahmen. Zusammen mit schwarzen Strichen. Damit man sehen konnte, wie die Kinder gewachsen sind. Wie groß sie geworden sind.

Apropos groß. Otto Meinert springt auf, nimmt ein weiteres Bild von der Wand. Von einer Kuh. „Ne! Das ist ein Bulle!“, so Meinert. Aber nicht irgendeiner. Sondern Charlie! Ein Charolais-Kälbchen, das er vor rund 30 Jahren von seinen Schwägern zur Hochzeit geschenkt bekommen hat. „Haben die einfach mit zum Polterabend gebracht“, sagt Meinert und lacht bei der Erinnerung. Inzwischen hat er rund 40 Rinder – und ein neues Hobby. Die Rinderzucht. Die Tiere stehen auf den Weiden des Wasserwerks in der Wedeler Marsch und liefern das Fleisch für Meinerts Geschäft. „Wollen Sie mal sehen?“, fragt er und holt das nächste Bild. Eine riesige Collage mit diversen Fotos. Alle von Kühen. Ochsen. Und einem Bullen. Er ist schwarz. „Deswegen habe ich ihn Obama genannt“, sagt Meinert und lacht. Das ist seine Art von Humor.

Meinert gehört laut „Feinschmecker“ zu den besten Fleischern Deutschlands

Die anderen Tiere haben keine Namen. Nur Nummern. Trotzdem gibt es da eine Kuh, die ihm besonders ans Herz gewachsen ist. Die mit der Ohrmarke 643. Die jedes Mal zu ihm kommt, wenn er die Tier auf der Weide besucht. Die so zahm ist, so lieb, immer ordentlich kalbt. Und wenn sie irgendwann mal nicht mehr trägt? Die Sache ist klar: „Dann müsste ich sie eigentlich schlachten lassen“, sagt Meinert. Fügt dann aber hinzu: „Vielleicht mache ich bei der aber auch eine Ausnahme.“

Die Mitarbeiter der Fleischerei Meinert im Jubiläumsjahr 1959. Otto Meinert, damals noch ein kleiner Junge, steht links vor der Theke
Die Mitarbeiter der Fleischerei Meinert im Jubiläumsjahr 1959. Otto Meinert, damals noch ein kleiner Junge, steht links vor der Theke © Andreas Laible

Auf dem Tisch vor ihm liegen zwei Telefone, klingeln ununterbrochen. Meinert ist gefragt, gehört laut „Feinschmecker“ zu den besten Fleischern Deutschlands. Das war schon als Geselle so, als er mit seiner Gesellenarbeit Bundessieger wurde und 5000 Mark von der Stiftung für Begabtenförderung im Handwerk bekam – wenn er sich vor seinem 30. Geburtstag selbstständig macht. „Mein Vater wollte damals zwar noch nicht in Rente gehen, hat mir den Laden dann aber doch überschrieben“, sagt Meinert. Da war er 29 Jahre alt.

Das Geschäft läuft gut. Rund eine Dreiviertel Millionen Umsatz macht der Betrieb. Sagt Meinert. Einfach so. Nicht stolz oder eingebildet. Sondern einfach so. Er hat hart dafür gearbeitet, einen Lieferservice als zweites Standbein aufgezogen. „Aber schreiben Sie nicht Partyservice. Ich nenn das Lieferung für Festlichkeiten“, sagt er mit Nachdruck. Er lebe ja schließlich nicht in Amerika.

Er nicht. Aber seine Frau und die Kinder. Sie sind vor Jahren ausgewandert, nur sein Jüngster ist bei ihm geblieben. „Fragen Sie nicht“, sagt er und winkt ab. Blöde Geschichte. Trotzdem ist ein Happy End in Sicht. Oder „ein gutes Ende“, wie er es nennen würde.

Seine Tochter Sophia ist vor ein paar Monaten zurück nach Deutschland gekommen, wohnt sogar wieder bei ihm. Zum Vatertag hat sie ihm einen Brief geschrieben. Den schönsten, den er je bekommen hat. „Sehr geehrter Herr Meinert, hiermit bewerbe ich mich bei Ihnen als Fleischereifachverkäuferin.“

Am 1. August fängt sie ihre Ausbildung im Familienbetrieb an. Damit würde die Fleischerei in die fünfte Generation gehen. Oder in die vierte. Alles eine Frage der Definition.