Hamburg. Bodenständig, authentisch, zugewandt: So erinnern sich Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums an einen Besuch des Namensgebers.
Wer durch die Privaträume des verstorbenen Ehepaars und durch Helmut Schmidts früheres Arbeitszimmer geht, staunt über die vielen Schätze eines langen, intensiven Lebens. Manches kleine Geheimnis kann postum gelüftet werden. Zum Beispiel die Bedeutung des kleinen Stoffvogels auf dem Fernsehtisch im Wohnzimmer. Es handelt sich um einen Kiwi. Was hat dieses urige, zerzauste Plüschtier mit dem gelben Schnabel und den knuffigen Augen im Hause Neubergerweg zu bedeuten?
Ortswechsel. Wir sitzen im Büro des Helmut-Schmidt-Gymnasiums in Wilhelmsburg. Schulleiter Volker Clasing hat zwei Schülerinnen und zwei Abiturienten zum Gespräch mit dem Abendblatt gebeten. Es geht um die Rolle des Namensgebers dieses Gymnasiums mit 816 Schülern der Klassen fünf bis zwölf. Vor allem stellt sich die Frage: Warum steht der verstorbene Bundeskanzler auch bei jungen Leuten so hoch im Kurs?
"Für mich ist er ein Vorbild"
„Helmut Schmidt inspiriert“, entgegnet Dilber Özkul. „Für mich ist er ein Vorbild.“ Als Klassensprecherin der fünften Klasse stand sie daneben, als eine Mitschülerin dem Staatsmann den putzigen Vogel persönlich übergab. Vor sechs Jahren war das, anlässlich der Umbenennung des früheren Gymnasiums Kirchdorf/Wilhelmsburg. Die Anfangsbuchstaben dieser Stadtteile ergeben KiWi ... „Helmut Schmidt hat sich über das kleine Geschenk sehr gefreut“, erinnert sich Dilber an einen markanten Moment. Dass diese Freude offensichtlich so stark war, das Maskottchen daheim aufzubewahren, begeistert die Schüler.
Bevor wir Schmidts Stellenwert weiter auf den Grund gehen, kurz zur Information: Die Umbenennung des Gymnasiums 2012 würdigte den Einsatz des ehemaligen Polizeisenators während der Sturmflut ein halbes Jahrhundert zuvor. Im 1962 unter Wasser stehenden Stadtteil Wilhelmsburg ist Schmidts pragmatisches Handeln von damals unvergessen – nicht nur bei den Älteren.
Schüler recherchierten im Kanzlerbungalow
Zumal der Name mit Inhalten angereichert wurde. In Eigenregie entwickelten 24 Schüler eines Geschichtskurses vor rund einem Jahr in der Pausenhalle, eine Dauerausstellung, deren Name Programm ist: „Schmidterleben“. Bei der Eröffnung Ende Mai dieses Jahres lobte Peer Steinbrück, der Kuratoriumsvorsitzende der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, eine außerordentliche Leistung. In der Tat ging der persönliche Einsatz von Schülern und Lehrern weit über den Unterrichtsalltag hinaus. Studien im Privathaus von Hannelore und Helmut Schmidt sowie im Archiv nebenan rundeten die Recherchen ab.
Die Lebenslinie von Helmut Schmidt
„Es war wichtig und hilfreich, dass die Jugendlichen am Neubergerweg ein Gefühl für die Personen erhalten konnten“, weiß Schulleiter Clasing. Er war seinerzeit der verantwortliche Geschichtslehrer. Dass die private Lebenswelt des namhaften Ehepaares Schmidt gar nicht so anders aussah als bei vielen zu Hause, „hat Distanz abgebaut und Interesse geweckt“. Das Gymnasium an der Krieterstraße genießt einen erstklassigen Ruf. Der Bertini-Preis sowie der Hamburger Bildungspreis sind Beispiele von Ehrungen für vielfältigen Einsatz.
Auch Florian Höpner hat den Besuch in Langenhorn in bester Erinnerung. Nach seinem Abi im Frühjahr absolviert der 19-Jährige derzeit eine Ausbildung bei der Feuerwehr. Den mehr als 80 Jahre vor ihm geborenen Helmut Schmidt bezeichnet er als Vorbild: „Weil er sich besonders gut artikulieren konnte und eine außerordentliche Wirkung auf andere Menschen hatte.“ Das einem Schmidt-Zitat entlehnte Leitbild der Schule passt ins Bild: Mut zur Zukunft.
Schmidt war authentisch
Omeima Garci aus der elften Klasse schätzt den Menschen und Politiker gleichermaßen. „Helmut Schmidt hat während der Sturmflut 1962 eine enorme Menschlichkeit gezeigt“, sagt sie. Eine solche Tugend sei heutzutage bedeutender denn je. Die Arbeit an der Ausstellung habe Spaß gemacht und Spannung gebracht. „Herr Schmidt war authentisch“, ergänzt Omeima, „und hat nicht jedem nach dem Mund geredet.“
Juliana Weiß nickt zustimmend. Nach ihrem Abitur im Mai absolviert die 18-Jährige ein freiwilliges soziales Jahr. An den Einsatz für das Projekt „Schmidterleben“ denkt sie gern zurück. Aus ihrer Sicht seien viele Politiker „zu weich gespült“ und zu weit vom wirklichen Leben entfernt. „Ein Grund mehr, die Erinnerung an eine Persönlichkeit vom Format Helmut Schmidts wachzuhalten“, meint sie. Einer wie er fehle momentan in der deutschen Politik.
Für Umbenennung gab es Ausnahmegenehmigung
Das Ergebnis dieser Forschung im Rahmen des Geschichtsunterrichts kann sich sehen lassen. Dauerhaft. Vor allem, weil jeder weit mehr machte als er musste. Das betrifft Schüler und Pädagogen ebenso wie die Mitarbeiter der Stiftungen plus angeschlossenem Archiv. „Ich bin sicher, mein Vater und meine Mutter hätten sich über diese Ausstellung sehr gefreut“, schrieb Susanne Schmidt in einem Grußwort. Sich sein Leben lang „wissensdurstige Neugierde“ zu bewahren, sei eine „wunderbare Eigenschaft.“ Siehe Helmut Schmidt.
Dieser sei, sagt das Quartett im Büro des Schulleiters unisono, in ihrer Generation durchaus präsent – teilweise intensiver als mancher aktive Politiker. Florian Höpner hatte die Chance, den ehemaligen Kanzler leibhaftig zu erleben, in der Pausenhalle während der Präsentation eines Unterrichtsprojekts mit Schwerpunkt Sturmflut 1962. „Wir haben Helmut Schmidt als geduldig, zugewandt und interessiert erlebt“, berichtet Florian. Er habe etwas von der Aura dieses Hanseaten gespürt.
Juliana Weiß‘ Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit dem „Deutschen Herbst“ 1977 und dem Terror während der Kanzlerschaft Schmidts. „Dieses Thema ist faszinierend und nach wie vor aktuell“, meint sie. „Es ist spannend, wie unterschiedlich Menschen damit umgehen.“ Die Schüler seien bemüht gewesen, sich in die Situation des damaligen Regierungschefs hineinzuversetzen.
Es fehlen Integrationsfiguren
Omeima und ihre jungen Mitstreiter informierten sich zudem durch Fernsehinterviews und Reportagen über den Weltmann aus dem Norden der Hansestadt. „Wahrscheinlich wäre Helmut Schmidt mit der heutigen Politik hierzulande nicht zufrieden gewesen“, mutmaßt die Schülerin. „Es fehlen Integrationsfiguren“, meint der Auszubildende Florian. Umso wichtiger sei es seiner Meinung nach, das Leben des verstorbenen Staatsmanns in Ehren zu halten – beispielsweise durch Ausstellungen.
Omeima Garci und Dilber Özkul nutzen eine App der „Tagesschau“, um sich via Push-News über das politische Geschehen auf dem Laufenden zu halten. Das Engagement für das Schmidt-Projekt hat also Wirkung gezeigt und anhaltendes Interesse geweckt.
„Wie ist es eigentlich damals zur Umbenennung unserer Schule in Helmut-Schmidt-Gymnasium gekommen?“, möchte Dilber zum Schluss von ihrem Schulleiter wissen. Denn von Volker Clasing stammte seinerzeit die Initiative. Einen Brief an Helmut Schmidt hat er geschrieben, kurz und knapp, in Zusammenhang mit dem 50. Jahrestag der Sturmflut. Schmidts Antwort kam prompt und ähnlich schnörkellos. Eigentlich dürfen Institutionen in Hamburg nicht nach lebenden Personen benannt werden. Aus gutem Grund erteilte der Senat eine Ausnahmegenehmigung.
Helmut Schmidt machte es möglich. Auch das.